Armut findet in der Postdemokratie nicht statt

Romney habe letzthin behauptet - bei einem der Phrasenduelle mit Obama war es -, dass er die Mittelschicht entlasten wolle. Das hat ihm Lob eingebracht, auch bei der hiesigen Presse. Er habe damit kundgetan, dass es ihm nicht ausschließlich um die Oberschicht gehe, aus der er selbst kommt. Natürlich ergreift in diesem Wahlkampf, wie nirgends in der westlichen Welt, niemand Partei für die, die man als Unterschicht bezeichnen könnte; für diejenigen, die dem Mantra Wir sind alle Mittelschicht! nicht nachkamen, die jämmerlich krepiert sind auf ihren Weg in die Mitte, gibt es selbst in Zeiten dicker Versprechungen, im Wahlkampf also, keine Hoffnungsfunken - klassischer gesagt, niemand übernimmt Verantwortung für die, die im relativen Elend leben. Dass der US-Wahlkampf keine Rücksicht auf die nimmt, die qua ihres sozialen Standes Hilfe benötigen, ist der übliche Schmu der Veranstaltung. Hierzulande ist das nicht anders.

Wann haben wir zuletzt erlebt, dass eine der etablierten Parteien erklärte, sie wolle die Situation der Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen verbessern? Das kündigt nur Die Linke an und erntet dafür die Verachtung des Establishments. Alle Politik in der westlichen Welt und in jenen Landstrichen, in denen der furor neoliberalis raste, hat sich davon verabschiedet, denjenigen Klassen, denjenigen sozialen Schichten ein besseres Leben zu ermöglichen, die ganz unten angelangt sind. Denn diejenigen, die aus der Mittelschicht herausfallen oder nie drin waren, existieren nicht mehr. Als Witzfiguren im TV schon, auch als Wutentflammer in Zeitungsberichten - politisch sind sie aber tot. Wer sich ihrer politisch annimmt, landet in der Bedeutungslosigkeit - die Diktatur der Mittelschicht verübelt es einem sehr, wenn nicht sie umworben wird, sondern all die Untermenschen, denen man die Armut als selbstverantwortlichen Fehltritt anhängt.
Dass man die südamerikanische Haltung gegen den Neoliberalismus, die dort unter dem Namen bolivarianische Revolution bekannt ist, im Westen so verächtlich macht, liegt auch daran, dass sie sich auf die Massen verarmter, unterpriviligierter Menschen stützt. Der Bolivarianismus war kein Putsch, sondern wurde an den Urnen entschieden - sieht man mal von Kuba ab, das man zur Anti-Washington-Consensus-Achse hinzuzählt - und das unmöglich wahltechnisch veränderbar gewesen wäre; in Venezuela, Bolivien und Ecuador gelangten Personen in Machtpositionen, die nicht nur Reformen zur Besserstellung versprachen, sondern diese auch, indem man sich von den Vereinigten Staaten löste, realpolitisch umsetzte.
Der Westen hat kein Problem mit Chavez, weil er mit dem typischen Machismo jener Weltgegend auftritt, die Berichte über seine Diktatur, sein Endlosmandat und Wahlmanipulationen sind Legende. Ein Putsch vor Jahren blieb von kurzer Dauer, endete damit, dass ihm seine Descamisados ins Amt zurückpressten. Dasselbe gilt für Morales, den man einen Enteigner nennt, der aber auch an die Macht gelangte, weil er einen Gegenentwurf zum asozialen Imperialismus des Westens aufbauen wollte, einen, in dem die Menschen seines Landes nicht die Verfügungsmasse höherer Interessen sind, sondern Subjekte mit Menschenrechten. Es sind Märchen, die über das linksfaschistische Südamerika erzählt werden. Man hat ein Problem damit, dass da jemand Politik betreibt, die für die Armen eintritt - das kommt nämlich im Westen gar nicht mehr vor, man ist dort darüber hinweg.
Der Bolivarianismus hat die Ressourcen des Landes der Allgemeinheit zurückgegeben. Die erzielten Mittel wandern in Sozial- und Bildungsprogramme. Unter Chavez steigt die Alphabetisierungsrate; die schlimmste Armut wird gelindert - aber es bleibt noch viel zu tun, wie Tariq Ali berichtet. Dennoch sind Fortschritte zu spüren und die ökonomisch Benachteiligten merken, dass es Verbesserungen für sie gibt. Natürlich ist die Frage berechtigt, was nach dem Erdöl kommt. Bricht der Bolivarianismus zusammen? Danach Schocktherapie mit Sozialabbau und Privatisierungen? Daran muss die südamerikanische Auflehnung gegen den Neoliberalismus heute arbeiten - sie darf nicht nur als Ressourcenlieferant ihren Widerstand finanzieren, sie muss autark genug werden, sich selbst zu stützen.
Bekennt sich heute noch jemand dazu, der personalisierten Armut unter die Arme greifen zu wollen? Das bedeutete auch, Vermögenssteuer einzuführen, Spitzensteuersätze hochschrauben, Unternehmens- und Körperschaftssteuer auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen. Wer die Armen zum Gegenstand seiner Politik macht, wer ihnen helfen will, der disqualifiziert sich bei denen, die nicht arm sind. Nicht nur bei den Reichen, sondern auch bei den Mittelschichtsmenschen, die stets erklärt bekommen, dass sie für alles zahlen müssten. Nicht nur für vernünftige Dinge wie Straßen und Polizisten, sondern auch für so unvernünftige Einrichtungen wie Arbeitslosen- oder Krankengeld. Wer wie Die Linke die Unterschicht als Basis ins Boot holt, bekommt insofern auch die kalte Wut dieser Ausgebeuteten und Beraubten aus der Mitte zu spüren. Und man bekommt intellektuelle Vorwürfe zu hören, wie jenen, es handle sich bei dieser Methode um dumpfen und machtversessenen Bonapartismus, der das Lumpenproletariat einsammelt, nur um zur Macht zu gelangen - wohlweislich wird dabei unterschlagen, dass die marxistische Analyse durchaus nachvollziehbar offenlegte, dass eben jener Bonapartismus nicht als die Urform humanistischer Gesellschaftsentwürfe, sondern als die des Faschismus anzuerkennen ist.
Ist es nicht das Wesen der Politik, das Zusammenleben zu regeln? So zu regeln, dass diejenigen, die aus etwaigen Gründen benachteiligt werden, dennoch ein Leben führen können, das als lebenswert zu bezeichnen ist? Um wen, wenn nicht um die, die wenig haben, nicht weiterkommen, denen das Leben Strapaze und Existenzangst ist, sollte sich denn Politik sonst kümmern? Bedeutet Demokratie nicht, dass diese Menschen alle Möglichkeiten haben sollten, ihre Interessen in den Diskurs zu werfen? Wie demokratisch ist es, wenn man unumwunden so tut, als gäbe es Interessen von denen da unten gar nicht?
In postdemokratischen Zeiten ist die politische Solidarität und ein hoffnungsfroher Ausblick für die ökonomisch Niedergehaltenen ein Frevel. Postdemokratie will Rituale, die sich darauf erstrecken, hin und wieder Reformen zu versprechen, das Leben einer Klientel zu erleichtern. Das sind meist Sonntagsreden, die von den Medien gleichgeschaltet zu Bekenntnissen hochstilisiert werden. In der Postdemokratie, dem politischen System der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, nach Schelsky, ist es Populismus, Arme politisch anzusprechen - es ist jedoch kein Populismus, der Mittelschicht den Bauch zu pinseln.

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