Arme Wahrheit

Von Walter

Dir wurde übel mitgespielt in diesen Zeiten. Schon länger blies dir ein frecher Wind entgegen. Doch nun ist daraus ein Sturm geworden, der dich ganz zerzaust hat und dir grob deine sorgfältigen Worte zurück in den Mund gestopft. Du hast gekämpft, deine Stimme erhoben, doch der Sturm war stärker, lauter. Und nun sitzt du am Wegrand, müde, ausgehungert vielleicht auch und heiser.

Still ist es um dich geworden. Man vernimmt dich kaum mehr. Es gibt Leute, die haben dich bereits für tot erklärt. Im Brustton der Überzeugung wollen sie uns glauben machen, dass es die Wahrheit nicht mehr gibt, ja nie gegeben habe. Jeder und jede verfüge seit eh und jeh bloss über seine eigene Wahrheit. Eine umfassende Wahrheit zu behaupten, auf die wir uns gemeinsam berufen könnten, sei so naiv wie die Behauptung, es gäbe einen Gott mit weissem Bart und gutem Willen. Gegen solche dreiste Wahrheitsleugner treten die Wahrheitsapostel an. Sie behaupten ihrerseits, sie seien im Besitz der wahren Wahrheit, und wer immer Wahrheit suche, könne sich bei ihnen daran laben – gratis natürlich.

Und irgendwo dazwischen sitzt du, arme Wahrheit, irgendwo am Wegrand vielleicht, erschöpft, missbraucht und auch gedemütigt. Niemand glaubt mehr an dich – und sehnt sich doch nach dir, nach deiner Schönheit, deiner Verlässlichkeit. Du bist nicht tot. Wenn wir dich in dieser stürmischen Zeit auch aus den Augen verloren haben, so empfinden wir doch klar, dass du irgendwo da draussen sein musst, vielleicht gleich um die Ecke. Wie sonst könnten wir fast schon untrüglich eine Lüge als solche erkennen? Und wie uns über Gemeinsamkeiten überhaupt verständigen?

Vielleicht ist es auch richtig, dass du dich rar machst. Die Zeiten der bequemen Gewissheiten sind wohl vorüber. Wir müssen wieder um dich kämpfen, uns neu verständigen, was für den postmodernen Menschen Wahrheit überhaupt sein kann – und was für die Gesellschaft. Da hilft Nostalgie nicht weiter, nur ein Diskurs auf der Höhe der Zeit, eine redliche Auseinandersetzung ebenso auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene – und ein entschiedenes Nein zur Lüge, die sich wie Wahrheit gebärdet.


Bild: Truth von David Bruce, CC-Lizenz via flickr


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