Appendix

Es ist immer noch Tag der Republik (Heute ist zwar schon der 1. November, aber gehen wir geistig noch einmal zum 23. Oktober zurück).

Ich habe davon Wind bekommen, dass ungarische Patrioten einen Fahnenzug durch die Stadt planen und möchte diesem Treiben beiwohnen. Nach einigem Herumgefrage finde ich mich vor einem Gebäude wieder, das als „Temploma“ bezeichnet wird.

Die Kirchen in Ungarn verun... veranstalten inzwischen Bärendienste anstatt Gottesdienste

Die Kirchen in Ungarn verun... veranstalten inzwischen Bärendienste anstatt Gottesdienste

Dieser „Temploma“ gleicht eher einem Beamtentempel als einer Kirche – ist aber Zweiteres. In diesem Moment befinden sich die Teilnehmer der Jobbik-Prozession in ihr und beten für ihr Großungarn mit den Grenzen von 1914. Meine Ungarischkenntnisse existieren erst seit kommender Woche und es hat einiges an journalistischem Gespür abverlangt herauszufinden, welche Bären… äh ich meine natürlich Gottesdienste in der Kirche stattfinden – die Nationalisten drumherum machten ihrer Bezeichnung alle Ehre und waren einzig der ungarischen Sprache mächtig.

Nach einiger Sucherei finde ich die – nennen wir sie – Tempelwache (Ungarisch „Templomörszég“ – Polizei heißt zum Vergleich „Rendörszég“), die zwar etwas unorganisiert wirken, aber zumindest schlechtes Englisch sprechen und finde heraus, dass sie wegen Trianon traurig sind.

Bei dieser Aussage handelt es sich (leider!) um keine satirisch-zynische Interpretation eines anderen Satzes, sondern um ein Zitat (wörtlich: „We are sad because of Trianon“).

„Trianon“… Was war das noch gleich?

Für alle, die ihre Geschichtskenntnisse erfolgreich verdrängt haben:

Als es im Jahr 1867 zum tatsächlichen Ausgleich der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gekommen ist
(die Gesetze gab es schon seit 1848) hat der ungarische Teil auch viele nicht- oder nur teilweise ungarischsprachige Gebiete umfasst
(u.a. Slowakei, Kroatien, Teile vom heutigen Rumänien, etc), in denen Ungarn manchmal in der Mehrheit (z.B. Siebenbürgen/Transsilvanien), oder in der Minderheit (Slowakei, usw.) waren.

Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg - Quelle: http://www.twschwarzer.de/au.htm

Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg - Quelle: http://www.twschwarzer.de/au.htm

Die Mittelmächte Österreich-Ungarn, Deutschland, das Osmanische Reich und Bulgarien
(auch Bulgarien hat damals auf „unserer“ Seite gekämpft!) verloren den Ersten Weltkrieg, was dazu geführt hat, dass in verschiedenen Pariser Vororten die „Friedensverträge“ verfasst wurden. Nach der neuen Grenzziehung hatte sich das Abbild Europas stark verändert – jedoch nicht unbedingt zum Positiven, da es nur wenige Länder gab, denen die neuen Grenzen behagten
(dieses Faktum war auch eine Vorbedingung für den Zweiten Weltkrieg).

Europa - neu - Quelle: http://www.diercke.de/kartenansicht.xtp?artId=978-3-14-100770-1&seite=92&id=16017&kartennr=2

Europa - neu - Quelle: http://www.diercke.de/kartenansicht.xtp?artId=978-3-14-100770-1&seite=92&id=16017&kartennr=2

Ungarn war nicht unter den wenigen „Gewinnern“. Während wir Österreicher noch mit Stolz über Sait Germain -hier wurden unsere Verträge unterzeichnet- jammern dürfen (lieber nicht zu viel, sonst wird das das FPÖ-Wahlprogramm für 2013!), erfolgte der Aderlass der Ungarn in Trianon.

Zurück in die Gegenwart – vor mir steht ein Angestellter der Tempelwache und ist öffentlich erbost darüber, was die gemeine, imperialistische Entente, also die Siegermächte im Ersten Weltkrieg, damals – 1918 aufgeführt haben. Fast schon fühle ich mich an Israel erinnert, wo sich Araber über das gemeine, imperialistische Israel von 1948 aufregen. Aber nur fast. Noch hat Ungarn keine Kriegserklärung an die Staaten versandt, die vor über 90 Jahren auf seine Kosten Landgewinne verzeichneten durften.

Bin ich ein Extremist, wenn ich – auch nur satirisch – schreibe, dass Ungarn allen umliegenden Ländern den Krieg erklären könnte? Schon die NSDAP hat es hervorragend verstanden die alten „Kriegswunden“ des ehemaligen Preußens aufzureißen und Bader zu spielen. Jemand, der seit über 90 Jahren Kriegsinvalide ist, sollte in die wohlverdiente Pension geschickt werden und jüngeren Nachfolgern das Feld überlassen, anstatt den Verstand zugunsten von persönlichen Racheplänen zu verwerfen.

Hunde haben manchmal eine fast unheimlich gute Menschenkenntnis

Hunde haben manchmal eine fast unheimlich gute Menschenkenntnis

Nichtsdestotrotz sind wir Österreicher in einer glücklichen Lage. Wenn die FPÖ so weitermacht können wir uns vielleicht schon um 2020 mit ungarischer Hilfe Südtirol und das Sudetenland zurückholen. Und Kärnten wird endlich Deutsch.

Der Marsch mit Jobbik war dann ziemlich nett – alles mehr oder weniger im Gleichschritt, zwar nicht so hübsch, wie‘s die NSDAP damals zustandegebracht hat, aber der Gedanke zählt. Im schmucken Schwarz wird einem dann auch in der Oktobersonne schön warm und man findet sich auf einem Platz ein, wo die Ungarische Hymne zum Besten gegeben wurde.

Mitsingen konnte ich leider nicht, aber gespannt war ich trotzdem. Auf die sicherlich rhetorischen Meisterleistungen der Jobbik-Avantgarde – egal, ob ich sie verstehen würde oder nicht. Ich wollte das Feuer der Puszta spüren, das in ihren Reden innewohnt.

Der Redner hat mich dann eher an Autofahrer auf der Budapester Donaubrücke erinnert. Am Anfang erträglich, hin und wieder möglicherweise nicht unspannend, aber auf Dauer eher erschöpfend. Dies bewog mich dazu, mein Abenteuer bei den potentiellen Großungarn von morgen aufgrund von Müdigkeit abbrechen.

Man ist ja zuerst Mensch und dann erst Rechtsextremist

Man ist ja zuerst Mensch und dann erst Rechtsextremist

Ich wohne ja glücklicherweise gleich in der Nähe und so führte mich mein Weg vorbei an überteuerten Ständen, wo souvenierhungrige Demo-Teilnehmer Fähnchen, Abzeichen und „Musik“-CDs kaufen konnten.

Für den rechten Bücherfreund

Für den rechten Bücherfreund

Einer der letzten Stände versorgte die intellektuelle Schicht der Anwesenden mit Lesematerial. Bücher sind auch meine Hauptausgabequelle und ich konnte mich nicht erwehren einmal einen Blick auf hier liegenden Werke zu werfen. Über Wiedererkennungswert verfügte leider kein…

Wie gelähmt blieb ich stehen. Vor mir lag ein Büchlein, geziert von einem großen, blauen Davidstern. Den Gedanken, die anwesenden Menschen wären im Herzen solidarisch mit Israel verwarf ich bevor ich ihn richtig zuendehoffen konnte. Lag vor mir wirklich dieses Pamphlet?

Mit einem der Verkäufer war ich in der Lage zu kommunizieren und meine größte Befürchtung verdichtete sich.

Vor mir lagen „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Meine doch etwas naive Hoffnung, dass der Verstand des Menschen in Europa über die Verklärung triumphiert hat war mit einem Mal beseitigt.

Die Protokolle der weisen von Zion - auf Ungarisch

Die Protokolle der Weisen von Zion - auf Ungarisch

„Die Protokolle der Weisen von Zion“ ist eine der abartigsten Hetzschriften gegen Juden, die ob ihres fast hilflos unglaubwürdigen Inhalts fast hilflos unglaubwürdige Popularität zustandegebracht haben. Geschrieben wurden sie höchstwahrscheinlich vom KGB – um Juden in der Sowjetunion zu denunzieren. Anders als beim Nationalsozialismus ist es heute weniger bekannt, dass es auch im Kommunismus nur eine Frage der Zeit war, bis man sich an Juden vergangen hat, die Nazis haben sich trotzdem über die Unterstützung aus Sowjetrussland gefreut. Die „Legende“ um die Herkunft der „Protokolle“ besagt, man hätte sie aus Theodor Herzls Hotelzimmer geklaut, als der erste Zionistenkongress stattfand. Die Realität ist um einiges banaler. Der Text stammt aus den Büchern „Biarritz“ von Herrmann Goedsche und „Ein Gespräch in der Hölle“ von Maurice Joly, wobei Letzteres überhaupt nichts mit dieser Thematik zu tun hat, sondern eine satirische Schrift gegen die Tyrannenherrschaft in Frankreich ist.

Die teilweise offensichtlich dilettantische Falschheit hat nicht dazu beigetragen, dass sich Ideen wie, Juden würden die Medien … oder überhaupt die ganze Welt (wenn schon, denn schon) kontrollieren durchsetzen. Weniger durchgesetzt hat sich -unverständlicherweise- dass das U-Bahn Tunnelsystem in Paris einzig zu dem Zweck gebaut wird, dass Juden es mit Sprengstoff vollstopfen und die Stadt in die Luft jagen würden.

„Was steht in diesem Buch“ frage ich also den Vertreiber dieser Glanzbeispiele von Revolverpamphleten – „Es wird beschrieben, wie die Welt funktioniert und wie sie regiert wird“.

Meine Reaktion? Ich lache ihn aus. „Wie kann denn ein vernünftiger Mensch einen derartigen Schwachsinn glauben? Es mangelt doch nicht an selbst überprüfbaren Beweisen, dass dieses Buch eine Lüge ist“ – etwas verlegen antwortet er mir „Naja – aber die Leute kaufen es“.

Einige Schritte weiter ein weiteres Buch, das mir ins Auge sticht – geziert von Hebräischen Schriftzeichen. „Talmud“.

Das ist der Talmud - oder eine billige Lüge

Das ist der Talmud - oder eine billige Lüge

„Was ist das für ein Buch?“ frage ich wieder „Das ist ein Buch, woran die Juden glauben“.

„Sie wissen, dass der Talmud aus über 13 Bänden zu je über 300 Seiten besteht?“ – „Dann – äh – ist es wahrscheinlich eine Zusammenfassung oder so etwas“.

Ich möchte mir kaum Ausmalen, was darin steht. Der Talmud besteht zu einem Teil aus rabbinischen Diskussionen, die für einen Außenstehenden ohne Erfahrung recht seltsame Zitate enthalten können. Ein etwas vereinfachendes Beispiel:

Rabbi A: „Drogen sind gut!“
Rabbi B: „Nein! Drogen sind nicht gut, weil…“

Das Interessante in den Geschichten und Dialogen sind die Beweis und Diskussionstechniken. In unserem Beispiel wird Rabbi B versuchen, die Aussage seines „Kontrahenten“ zu widerlegen – Rabbi A sagt nicht aus, dass er Rauschgift gut findet, sondern dass Rabbi B zeigen soll, dass es nicht so ist. Egal. Zitieren kann man den Talmud trotzdem:

„Drogen sind gut!“

Kontext hin oder her.

Speziell bei diesen beiden Büchern interessierte mich etwas: Verfasser und Verlag. Ein Blick in den „Talmud“ auf die erste Seite verrät mir… nichts. Auf die zweite Seite… ebenfalls nichts, die Dritte enthält genauso wenig relevante Daten, wie die letzten Seiten. Bei den „Protokollen“ erwarte ich zwar keine Überraschungen und – erlebe auch keine. Beide Drucke haben weder einen genannten Verleger, noch Verfasser, kein Druckdatum und keine Druckerei.

Wer mehr Informationen zu den „Protokollen“ benötigt, findet sie hier:

Rosa-Luxemburg-Bildungswerk: Hamburger Skripte 3, Juni 2002: Michael Weh: Gefährliche Fiktion: Die „Protokolle der Weisen von Zion“ (PDF-Datei; 179 kB)


Filed under: Geschichte, Magyarország, Nachrichten

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