Es war ein Tag wie jeder andere, an dem die Sonne Ancyrias auf die warmen Steine der Ufergegend Enthawa schien. Das sanfte Rauschen des Meeres übertönte aus dieser Entfernung das rege Treiben in der grossen Hauptstadt Antra'tos, die auf der einzigen Insel vor der Enthawaküste erbaut wurde. Mächtige Türme ragten von dort aus in den Himmel und darunter befanden sich unzählige der weissen Häuser, die wie zartbehütete Schäfchen unter ihren grossen Brüdern versammelt waren und dort Schutz suchten. Die ganze Stadt war zusätzlich von einer hohen Mauer umkreist, auf deren Scheitel ein breiter Wehrgang angelegt war.
Taj'na Jal'tos war an diesem Tag nicht in der Stadt. Sie war ans Festland gegangen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und durch die schönen Wälder Kithanas zu wandern und Ne'kas ein wenig Auslauf zu gewähren. Ne'kas war eines dieser kleinen, wuscheligen, flinken Tierchen, die in fast allen Haushalten der Nazra zu finden waren: ein Sprootie. Und wie alle Sprooties war es sehr neugierig und hüpfte auf jeden Baum, von Ast zu Ast, auf den nächsten Baum und von dort wieder zu Boden, bevor es sich wieder sehnsüchtig bei seinem Frauchen einfand. Taj'na fand dies jedesmal von neuem lustig, plauderte dabei vergnügt mit Ne'kas, auch wenn es sie wohl nicht verstand, und zuckte lächelnd mit den Ohren.
Einige Stunden und viele Zwischenstopps später fanden sich die beiden am Ufer von Enthawa wieder und Ne'kas hüpfte auf ihre Schulter, um weiter sehen zu können. Unterwegs hatte Taj'na erfahren, dass es nicht mehr viel Zeit bis zum grossen Ereignis war und natürlich wollte sies es auf keinen Fall verpassen. Aber noch war nichts zu sehen. Zufrieden setzte sie sich ins Gras und liess ihren Stab neben sich stehen, während der salzige Meereswind durch ihre glatten Haare streichelte. Sie zog aus der Tasche ihres enganliegenden Kleidchens einen braunen Beutel und entnahm diesem ein Stück dünn geschnittene Lab'ra-Wurst, um es Ne'kas vor die Schnauze zu halten. Kurz schnupperte das kleine Näschen am Fleisch und zuckte dabei mit den Schauzhaaren, bevor es den Mund weit aufriss und die weissen Zähnchen zum Vorschein kamen. Lächelnd legte Taj'na die Wurstscheibe hinein und kraulte das Sprootie am Hals, während dieses mit Genuss die Zwischenmahlzeit verschlang.
Langsam neigte sich der Tag dem Ende zu und immer stärker wurde der Gedanke an das grosse Ereignis. Taj'na und Ne'kas starrten nun schon gemeinsam auf die entfernte Insel, deren Häuser und Türme noch immer regungslos im Sonnenlicht erstrahlten. Und auf einmal war es soweit: Ein sanftes Brummen liess die Wellen in der Bucht unregelmässig werden und den Boden unter den beiden spürbar erzittern, während ein unterschwelliger Ton durch die Lüfte zog und noch bis weit ins Land hinein verkündete, was dann geschah. Taj'na war ausser sich vor Begeisterung, wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ihren Stab in die Höhe gestreckt, doch sie blieb lieber sitzen falls die Vibrationen noch stärker geworden wären. Das Sprootie hingegen liess sich von nichts abhalten und sauste einmal im Kreis um sie herum, auf die Schulter, über den Nacken und auf der anderen Seite wieder herunter, dann auf die Schoss und über die Beine. Zwar wusste es nicht, was genau los war, aber es spürte, dass es etwas tolles sein musste.
Unendlich langsam erhob sich nicht nur die Stadt sondern die ganze Insel aus dem Meer, um nicht gleich wieder vom Sog des Wassers zurückgezogen zu werden. Es war ein unglaubliches Spektakel, wie sich Antra'tos gemächlich in die Lüfte erhob und der Schwerkraft trotzte. Unter der Insel klatschten riesige Wellen aneinander, tobten ob der gestohlenen Landmasse und forderten sich gegenseitig zum Kampf um den neugewonnenen Freiraum. Endlich wagte es Taj'na aufzustehen und voller Freude ihren Stab emporzustrecken. "Ke'sai gà!", rief sie laut in die Bucht, "Sie schwebt!". Ne'kas schaute dabei etwas verwundert zu ihr hoch, hüpfte dann aber an ihrem Bein entlang nach oben und verschwand in ihrer Tasche. Mit glitzernden Augen beobachtete sie noch eine ganze Weile, wie die Stadt immer höher in Richtung Sonne stieg, um später ihren festen Platz über dem Ozean einzunehmen.
Als die unterste Spitze der Insel sich vom Wasser befreite, schossen sechs Lichtstrahlen von allen Seiten aus den Stadtmauern nach unten ins Meer und bewegten die schwebende Stadt langsam und gemütlich vom Ufer weg.
Taj'na hatte dies noch wie gebannt mitverfolgt und war dann zusammen mit Ne'kas in der Tasche weitergegangen, der Küste entlang zum Strand hin, dem noch immer bis weit ins Meer hinein das Wasser entzogen worden war. Es machte ihr nichts aus, dass Ne'kas den Rest der Lab'ra-Wurst in ihrer Tasche aufgegessen hatte und nun vor ihr herumturnte, als ob nichts gewesen wäre. Sie lächelte stattdessen und genoss die wärmende Sonne auf ihrer blassen Haut, ihre Ohren standen fast waagerecht und tief in sich spürte sie ein Gefühl von innerster Zufriedenheit.