Ich kaufte mir die zweibändige gebundene Ausgabe von Anton Čechov: „Späte Erzählungen" aus dem Diogenes-Verlag und las als erste Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen".
Eine junge Dame mit einem Spitz
Zu Anfang spielt diese Erzählung in Jalta unter Kurgästen. Dmitrij Dmitrievič Gurov ist schon zwei Wochen hier auf Kur, da tritt ein neuer Kurgast in Erscheinung: eine junge Dame, zehn Jahre jünger als Kurov, mit einem Hündchen, einem weißen Spitz.
Es dauert nicht lange, da bietet sich für Gurov die Gelegenheit, die Dame kennenzulernen. Sie sitzen nämlich zufällig an nebeneinanderliegenden Tischen auf der Terrasse eines Cafés. Der Hund bietet den Anknüpfungspunkt, und schnell ist man im Gespräch. Die Dame heißt Anna Sergeevna (eine Anspielung auf Anna Sergeevna Karenina) und wirkt wie jemand, der zum ersten Mal allein unterwegs ist. Irgendwie bemitleidenswert, denkt Gurov danach.
Ein erster Kuss, eine erste Nacht
Eine Woche später treffen sie einander wieder, gehen an die Anlegestelle des Dampfers, beobachten die aussteigenden Menschen und stehen immer noch dort, als auch die letzten Ankömmlinge sich entfernt haben. Da küsst Gurov Anna plötzlich leidenschaftlich. „Gehen wir zu Ihnen", schlägt er vor (S. 296), und Anna lässt sich drauf ein. Nach dem diskret mit Schweigen übergangenen Geschehen im Hotelzimmer erzählt Anna von ihrem schlechten Gewissen. Sie fühle sich vom Bösen verführt. Und Gurov werde sie wohl bald nicht mehr achten, da sie ein leichtfertiges Wesen sei. „Ich bin eine schlechte, niedere Frau, ich verachte mich und denke nicht an Rechtfertigung. Ich habe nicht meinen Mann betrogen, sondern mich selbst. Und nicht erst heute, ich betrüge ihn schon seit langem. Mein Mann ist vielleicht ein ehrenwerter, guter Mensch, aber er ist doch ein Lakai! [...] Leben, nur leben wollte ich! [...] ich konnte mich nicht mehr beherrschen, etwas war mit mir geschehen, ich war nicht mehr zu halten, sagte zu meinem Mann, ich sei krank, und fuhr hierher ...", erklärt Anna (S. 298)
Noch in derselben Nacht fahren die beiden in einen Nachbarort, wo sie an der Küste sitzen und das Meer betrachten. Ab dieser Nacht treffen sie sich täglich.
Ein Brief vom Ehemann
Als ein Brief von Annas Mann kommt, er sei krank geworden, reist sie ab und verabschiedet sich von Gurov für immer. Sie kehrt in die Gouvernementsstadt S. zurück.
Auch Gurov kehrt nach Moskau zurück, doch die Erinnerung an Anna verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Schließlich fährt er nach S., macht Anna im Theater ausfindig, in einer versteckten Ecke küssen sie einander, doch Anna fleht ihn an, nach Moskau zurückzukehren. Sie werde zu ihm kommen.
Und so setzen sie ihre außereheliche Beziehung fort, indem Anna einmal im Monat unter einem Vorwand nach Moskau fährt und sie miteinander ein paar Stunden im Hotel „Slavjanskij Bazar" (einem Nobelhotel am Roten Platz) verbringen.
Für Gurov ist klar: Er hat schon viele Beziehungen gehabt, aber noch nie geliebt. Doch nun liebt er zum ersten Mal wirklich:
Ein offenes Ende
„Anna Sergeevna und er liebten sich wie zwei einander sehr nahe, vertraute Menschen, wie Eheleute, wie zärtliche Freunde; ihnen schien, als habe das Schicksal sie füreinander bestimmt, unbegreiflich nur, weshalb er, wie auch sie, mit einem anderen Menschen verheiratet war [...]. Danach berieten sie lange, sprachen darüber, wie sie es vermeiden könnten, sich zu verstecken, zu betrügen, in verschiedenen Städten zu leben, sich lange nicht zu sehen. [...] und beiden war klar, dass es bis zum Ende noch sehr-sehr weit war und dass das Komplizierteste und Schwierigste eben erst begonnen hatte." (S. 314f)
So endet die Geschichte - etwas abrupt.
Interessant daran ist, dass hier die außereheliche Liebe der beiden als die wirkliche Liebe dargestellt wird und man als Leser den Ausgang des Geschehens selbst imaginieren muss. Gelingt es den beiden, ihre Liebe auszuleben? Stirbt vielleicht Annas Ehemann? Betrügt Dmitrijs Frau diesen vielleicht auch? Dann könnten sich Möglichkeiten auftun. Oder wird aus der Liebe doch nichts als ein sich totlaufendes Ritual? Oder fliegt die Sache auf und es kommt zu einem Duell, wo Dmitrij auf der Strecke bleibt?
Eine kongeniale Übersetzung
Die Erzählung ist kurz und flüssig geschrieben. Der Diogenes-Verlag preist in seiner Verlagschronik* die Übersetzung Peter Urbans als kongenial, der lakonischen, alltäglichen Sprache Čechovs angemessen. Für den Verlag steht die wissenschaftliche Transkiption des Namens gleichsam symbolisch für „zeitgemäß" und „modern", während die unter dem Namen Tschechow veröffentlichten Ausgaben veraltet seien. Angesichts solcher Überheblichkeit packt mich gleich eine gewisse Skepsis. Leider kann ich nicht überprüfen, welche der Übersetzungen, die ich habe, dem Original am ehesten entspricht.
Für die Diogenes-Ausgabe spricht aber deren umfangreicher Apparat mit Entstehungsgeschichte, Anmerkungen, Selbstzeugnissen, usw. Erfreulicher Weise wurde inzwischen das Problem mit der Betonung der russischen Namen behoben, das in meiner „Drei-Schwestern"-Ausgabe von 1974 noch besteht: In den Anmerkungen werden alle Namen etymologisch erklärt und die Betonung durch Akzente gekennzeichnet. Da erlebt man so seine Betonungs-Überraschungen.
Anton Čechov: Die Dame mit dem Hündchen. In: ders.: Die Dame mit dem Hündchen. Späte Erzählungen 1897-1903. Übersetzt und mit einem umfangreichen Anhang versehen von Peter Urban. Diogenes, Zürich, 2015. S. 291-315. * Diogenes. Eine illustrierte Verlagschronik 1952 - 2002 mit Bibliographie. Aufgezeichnet von Daniel Kampa. Diogenes, Zürich, 2003.Bild: Wolfgang Krisai: Mädchen mit Hund in der Dordogne. Tuschestift, Buntstifte, 2014.