Anthem kommt aktuell nicht wirklich gut weg, wenn man sich die allgemeine Test-Landschaft anschaut. Warum ich das zum Teil verstehen kann, zum Teil aber auch nicht, lest ihr in unserem Test zum neusten Titel aus dem Hause Bioware.
Was ist Anthem denn nun?
Neben Mass Effect Andromeda habe ich nur Star Wars The Old Republic von Bioware gespielt. Neben diesen Titeln haben die kanadischen Entwickler sich auch durch Titel wie Dragon Age oder Baldur's Gate einen Namen gemacht. Nun soll es mit Anthem also ein neues Action-RPG für PC und Konsolen sein. So betitelt es zumindest Bioware selbst und hält sich damit ziemlich neutral, was die Einordnung von Anthem in der bisherigen Spiele-Landschaft betrifft. Zumeist las man, dass Anthem ein MMORPG sei oder ein Loot-Shooter, vielleicht fielen auch seitens der Entwickler mal diese Bezeichnungen. Nach mehreren Stunden in der fantastisch aussehenden Welt von Anthem kann ich euch aber sagen, dass es für mich keines von beiden ist und das die Entwickler es mit Action-RPG ziemlich auf den Punkt bringen. Und da liegt wohl auch das Problem an den in meinen Augen miesen Wertungen, die aktuell im Umlauf sind. Die individuellen Erwartungen an den Titel gehen so weit auseinander, dass diese gar nicht zu erfüllen waren.
Bioware wo bist du nur?
Aber fangen wir erstmal von vorne an. Anthem versetzt uns in die Rolle eines sogenannten Freelancers, eine Art Über-Soldat mit Javelin-Kampfanzug. Die Gruppe der ehrwürdigen Freelancer kämpft für Freiheit und Sicherheit auf einem fiktiven Planeten. Wer zu Beginn einen Charakter-Editor und ein simples Tutorial erwartet, wird von Anthem gleich überrascht. Wir landen in einem Endzeit-Szenario gleichen Setting und versuchen einen aussichtslosen Kampf zu unseren Gunsten zu wenden. Dabei wählen wir nach einem Absturz unseres Javelins zwischen einer weiblichen oder männlichen Stimme. Der wenig abwechslungsreiche Gesichtseditor folgt dann nach der Einführung. Diese Variante des Spieleinstiegs bietet zwar einiges an Action und gleich zu Beginn ein atemberaubendes Bild, was uns grafisch erwarten wird, Spieler, die die Demos ausgelassen haben oder nicht so fit im Shooter Genre sind, könnte das ganze Geblitzte und die zahlreichen Explosionen gleich zu Beginn überfordern. Nach dem erfolglosen Kampf spült es uns 2 Jahre in die Zukunft und wir finden eine veränderte Welt wieder. Was zwischenzeitlich passiert ist, wird zwar immer mal wieder in einzelnen Dialogen aufgegriffen, einen echten Bezug zu der Entwicklung des eigenen Charakters lässt sich so aber nicht herstellen. Dass die Geschichte hinter Anthem mehr zu bieten hat, als wir selbst erspielen, zeigt sich in den zahlreichen Cortex-Einträgen, die wir uns mittels gefundener Textabschnitte und Symbole in einer Art Datenbank zusammen sammeln.
Gameplay vs. Story?
Zur Umsetzung bzw. Verbindung von Story und Gameplay lässt sich sagen, dass wir in den (wenigen) Story-Highlights, die sich in den Zwischensequenzen wiederfinden, keine aktive Rolle spielen. Viel mehr finden wir uns in immer wiederkehrenden Missionsdesigns wieder. Sammel dies, verteidige das, aktiviere jenes. Und das meist in dieser Reihenfolge. Dass wir dabei nicht wirklich viel Hirnschmalz benötigen, kommt dem sehr guten Matchmaking von Anthem zu Gute. Wenn wir nämlich mal Solo unterwegs sind und uns einer öffentlichen Gruppe anschließen, lassen sich die Missionen ohne Probleme und ohne Kommunikation auf dem Schwierigkeitsgrad „Normal" abschließen. So lässt sich Anthem auch ohne regelmäßige Gruppe und entsprechende Planung „durchspielen". Wie sich das im Endgame darstellt, muss sich noch zeigen, bzw. dürfte vom Anspruch des einzelnen Spielers abhängen. Die einzelnen Missionen lassen sich nämlich in sechs Schwierigkeitsgraden erledigen, wovon drei erst mit Stufe 30 (aktuelle Endstufe) auswählbar sind. Diese haben Auswirkungen auf die gewährten Erfahrungspunkte und auf die Wahrscheinlichkeit, wie oft guter Loot fällt.
Obwohl die Missionen sehr eintönig sind, machen sie unheimlich viel Spaß. Das hängt aber mehr mit dem Gameplay zusammen, als mit dem Ablauf der Missionen. Das Geballer, der Einsatz von Fähigkeiten und das Erreichen von Kombos machen mit den schönen Effekten sehr viel Freude, welche auch nach zahlreichen Stunden nicht abklingt.
Die Story wird zwischendurch von einem „Free-Roam" Abschnitt unterbrochen, in dem wir uns Zutritt zu diversen Grabstätten erspielen müssen. In einigen News bzw. Foren-Beiträgen wurde dieser Abschnitt als stupider Grind verpönt, wobei ich sagen muss, dass dieser Abschnitt einem die Möglichkeiten des Freien Spiels näher bringt. Gezwungenermaßen, jedoch durchaus abwechslungsreich. Die Aufgaben bzw. der Aufwand dahinter sind zwischenzeitlich wohl aber angepasst worden, denn mehr als eine Stunde reine Spielzeit habe ich für die Bewältigung der Anforderungen der vier Grabstätten nicht aufbringen müssen, zumal die meisten davon nebenbei erledigt werden können. Solo wohlgemerkt.
Fluch und Segen
Jeder kennt sie. Die Volldeppen, die einem in zufällig zusammengewürfelten Multiplayer-Teams den Spielspaß versauen. Und hat man mal Spaß, dann ist man wohl selber der Depp, über den sich gerade die anderen Teamkameraden aufregen. In Anthem ist alles anders. Das simple Missionsdesign und die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade laden gerade dazu ein mit fremden Spielern loszuziehen. Man kann quasi nichts falsch machen und auf „Leicht" ist es fast unmöglich zu sterben. Diese Vorgehensweise bietet sich somit insbesondere für Solo-Spieler an. Wer mit Freunden loslegen möchte, kann die Missionen zumindest auf „Normal" wenn nicht sogar auf „Schwer" spielen. Je nachdem wie ernst man es meint. Das Matchmaking tut dabei sein übriges. Was in der Demo noch eine Katastrophe darstellte, funktioniert nun einwandfrei. Egal zu welcher Uhrzeit und bei welcher Mission, ich habe innerhalb weniger Sekunden eine volle Gruppe gefunden. Leider habe ich auch einmal versucht auf „Normal" bzw. „Schwer" mit zufälligen Spielern zu spielen und kann davon nur abraten. Durch eigenes Unvermögen segnete mein Freelancer relativ zügig das Zeitliche und anstatt von den umherschwirrenden Kollegen wiederbelebt zu werden, lag mein Javelin regungslos am Boden der Höhle. Da man in diesem Bildschirm nichts, aber auch wirklich gar nichts auswählen kann, war nicht mal ein „Rage-Quit" drin. Um Hilfe betteln ging auch nicht, sodass ich dort geschlagene 5 Minuten (gefühlt waren es 20) lag, bis sich doch mal jemand die Blöße gab, mich zu erlösen. Seitdem findet mein Freelancer nur noch den Weg in „leichte" Missionen, da die Frustwahrscheinlichkeit damit deutlich sinkt. Nichtsdestotrotz bin ich vom vorhandenen Matchmaking, insbesondere aus Sicht eines Solo-Spielers, sehr angetan.
Ein nennenswertes Manko in Koop-Missionen ist die sehr penetrante Meldung, man sei zu weit vom Missionspunkt entfernt. Hat man einen sehr voreiligen Kameraden in der Gruppe, ploppt die Meldung quasi im Minutentakt auf und sogar ein schnelles Hinterhereilen erspart uns nicht den drohenden Ladebildschirm. Ja ihr lest richtig, auch innerhalb einer Mission, welche bereits einen abgesteckten Raum nutzt, werden wir nicht einfach teleportiert, sondern müssen einen (nicht kurzen) Ladebildschirm ertragen. Apropos Ladebildschirm ...
Loading ... ... ...
Obwohl die Ladezeiten zur Demo deutlich verkürzt werden konnten, sind sie omnipräsent. Das allein die Schmiede als Inventar-Ersatz immer per Ladebildschirm geöffnet werden muss, ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Auch innerhalb einer Mission (wir sprechen hier von abgesteckten Arealen) müssen Höhlenabschnitte erst geladen werden. Auch das erste Laden einer Mission kann gut und gerne mal mehr als eine Minute dauern. Dabei braucht die Xbox One X Version aufgrund der 4K-Texturen spürbar länger als die Xbox One S. Ein Test innerhalb unserer Redaktion ergab, dass der erste Spielstart bis zum „Neuigkeiten" Bildschirm rund 51 Sekunden auf Xbox One S und Xbox One X dauert. Die deutlichen Unterschiede ergaben sich dann bei der Mission. Hier kam die Xbox One S bei unserer Stichprobe auf eine Ladezeit von 1:08 Minuten und die Xbox One X auf 1:20. Die Internetleitungen der beiden Redakteure sind vergleichbar bzw. dürften sich eher zugunsten der Xbox One X auswirken.
Mikrotransaktionen - who cares?
Insbesondere in Multiplayer-Titeln sind mir Mikrotransaktionen ein Dorn im Auge. Die Diskussion über Pay-to-win steht dann direkt im Raum und lässt sich meines Erachtens auch nicht mit dem Argument, es handle sich nur um kosmetische Items, abhandeln. Schließlich kann auch eine weniger auffällige Ausrüstung im PVP deutliche Vorteile bringen. Da es in Anthem (bisher) kein PVP gibt, kann ich in Bezug auf Mikrotransaktionen Entwarnung geben. Im Store kann man sich mit Echtgeld sogenannte Splitter kaufen (500 Splitter kosten 4,99 EUR und das größte Paket mit 4.600 Splittern 39,99 EUR, mit EA Access werden die Pakete 10 Prozent günstiger). Diese Splitter stehen der Ingame-Währung (Münzen) gegenüber, welche wir durch Missionen und das undurchsichtige Allianz-System erhalten. Von den Splittern oder Münzen können lediglich kosmetische Items, Animationen und Emotes gekauft werden. Die Preise sind dabei sehr happig. So zahlt man für ein Rüstungspaket im Angebot zirka 7,00 EUR. Die Ingame-Münzen sind aber verhältnismäßig schnell gesammelt und hat man ein bestimmtes Objekt ins Auge gefasst, so kann durchaus Motivation zum Farmen entstehen. Zusätzlich wird der Item-Shop nicht penetrant beworben und man kann ihn, insoweit gewollt, einfach ignorieren.
Grafikpracht und tolle Atmosphäre
Auch wenn kurz nach Release schon die ersten Vergleichsvideos zur E3 Präsentation veröffentlicht wurden und hier ein Downgrade propagiert wurde, kann ich in diesem Kontext die Gemüter beruhigen. Anthem sieht auf den Konsolen einfach fantastisch aus. Das HDR auf der Xbox One X tut sein übriges und sobald man eine Mission startet, auf der Plattform landet, bereit zum Abflug, zeigt Anthem seine ganze Schönheit. Das gewählte Setting weis zu überzeugen. Die Artenvielfalt in der dschungelgleichen Welt hätte jedoch durchaus größer ausfallen dürfen. Wir treffen bei unseren schnellen Flügen immer wieder auf die gleichen Gegnergruppen. Die Klangkulisse und die Licht-Effekte sind gut abgestimmt, wobei bei heftigeren Kämpfen die Framerate auf der Xbox One X merklich unter 30 FPS fällt. Innerhalb von Fort Taris führt man aus der Ego-Perspektive heraus zahlreiche Dialoge mit anderen Charakteren. Dabei funktioniert die Mimik deutlich besser als noch bei Mass Effect Andromeda, hier und da sind die Bewegungsabläufe aber nicht nachvollziehbar bzw. überzogen. Durch das Voranschreiten in den Loyalitäten bei den einzelnen Fraktionen verändert sich zudem das Stadtbild in wenigen Nuancen und es tummeln sich mit der Zeit wieder mehr Menschen in Fort Taris. So entsteht zumindest beiläufig das Gefühl von Weiterentwicklung der Spielwelt.
Fazit
Anthem erfüllt die hochgesteckten Erwartungen augenscheinlich nicht. Nichtsdestotrotz macht Anthem verdammt viel Spaß und das liegt größenteils am guten Gameplay und der fantastischen Grafik. Das Fliegen mit den Javelins, das Schießen mit dem übersichtlichen Waffenarsenal und die Fähigkeiten, die in Anthem einen deutlich höheren Stellenwert haben, als bei anderen Titeln dieses Genres, werden einfach nicht langweilig. Umso mehr stört die schwache Story, die man von Bioware einfach so nicht gewohnt ist. Das Gameplay von Anthem mit dem Storytelling eines Star Wars The Old Republic und ich wäre dahin geschmolzen. Die Entwickler von Anthem haben bereits eine Roadmap für die kommenden Wochen und Monate veröffentlicht und erste Änderungen am Loot-System umgesetzt, weitere sollen folgen. Hier sollten die Entwicklungen abgewartet werden. Meines Erachtens nach kann Bioware hier noch einiges in die richtige Richtung lenken, denn das Grundkonstrukt von Anthem bietet viel ungenutztes Potenzial. Am Ende des Tages geht es meines Erachtens einfach darum, dass ein Spiel Spaß macht und das hat Anthem von Stunde eins bis 20 allemal.