Anspruch und Wirklichkeit: Vom Umgang mit den NSU-Opfern

7.3.2012 – Am 23. Februar 2012 fand im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin die zentrale Trauerfeier für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle statt. Mit der Veranstaltung sollten die Angehörigen um Verzeihung gebeten werden und einen würdigen Rahmen zum Abschied und zur Trauer erhalten. Angela Merkel leitete die Veranstaltung als Ersatz für den zurückgetretenen Christian Wulff. Ihre Ansprache wurde als einfühlsam beschrieben und allgemein gelobt.

Anspruch und Wirklichkeit: Vom Umgang mit den NSU-Opfern

Einige Details der Trauerfeier, wie auch das Verhalten von Politikern, Medien, Behörden und Gerichten im Anschluss an die Veranstaltung, lassen die Ernsthaftigkeit des um Verzeihung Bittens allerdings sehr zweifelhaft erscheinen.

Anspruch und Wirklichkeit: Vom Umgang mit den NSU-Opfern

Wir vergessen zu schnell

Wir vergessen zu schnell“, sagte Angela Merkel in ihrer Ansprache: “Wir verdrängen, was mitten unter uns geschieht.” Insgesamt zwölf Kerzen symbolisieren auf einem Podest die zehn Opfer der NSU. Die elfte Kerze soll an weitere, bekannte wie unbekannte Opfer rechter Gewalt erinnern. Die zwölfte Kerze steht für die gemeinsame Hoffnung und Zuversicht in eine gute Zukunft.

Kurzfristig war die Kanzlerin eingesprungen, nachdem Christian Wulff durch seinen Rücktritt nicht mehr zur Verfügung stand. Horst Seehofer, der den Bundespräsidenten bis zur Neuwahl am 18. März offiziell vertritt, wollte wohl niemand darum bitten, die Hauptansprache zu halten, nachdem er im vergangenen Jahr noch geprahlt hatte, er werde unerwünschte Einwanderung „bis zur letzten Patrone“ bekämpfen.

Joachim Gauck hätte ebenfalls zur Verfügung gestanden und nahm als Gast an der Trauerfeier teil. Eine aktive Mitwirkung hätte aber insofern irritierend wirken können, als dass sich der designierte Präsident noch vor wenigen Wochen kritisch über eine zentrale Gedenkfeier für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle geäußert hatte. Abgesehen davon hatte Gauck am 10. Oktober 2010 im TV-Kanal der Neuen Züricher Zeitung sein Verständnis für das „tiefe Unbehagen alteingesessener Europäer“ gegenüber Muslimen zum Ausdruck gebracht und in diesem Zusammenhang auch von „Überfremdung“ gesprochen.

So übernahm Angela Merkel die Aufgabe der zentralen Rednerin und selbst ihre Kritiker wussten anzuerkennen, dass sie Christian Wulff angemessen und würdig vertrat. Schwer dürfte es der Kanzlerin allerdings gefallen sein, die „elfte Kerze“ anzusprechen, die an weitere, bekannte und unbekannte Opfer rechter Gewalt erinnern sollte.

Bis heute hat die Bundesregierung ihre offiziellen Zahlen zu den Todesopfern rechter Anschläge in Deutschland nicht korrigiert. Sie geht nach wie vor von 47 Opfern in der Zeit zwischen 1990 und 2010 aus, während unabhängige Untersuchungen, Ermittlungen und Recherchen die Zahl der Todesopfer in dieser Zeit auf 150 und mehr beziffern. Die zentrale Gedenkfeier hätte für Angela Merkel einen angemessenen Anlass geboten, die bisherige Annahme offiziell zu korrigieren und der „elften Kerze“ damit tatsächlich einen Sinn zu geben.

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Die Ansprache von Ismail Yozgat

Besonders bewegt zeigten sich viele Teilnehmer und Zuschauer von der Ansprache des Ismail Yozgat, dem Vater von Halit Yozgat, der am 6. April 2006 im Alter von 21 Jahren von der NSU in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde und dort in den Armen seines Vaters starb.

Die auf türkisch gehaltene Rede wurde während der Veranstaltung von einer Dolmetscherin übersetzt. Diese Übersetzung wurde anschließend von vielen Zeitungen abgedruckt oder in Auszügen zitiert.

Als Gastkolumnistin der Frankfurter Rundschau hat die Journalistin Mely Kiyak in einem Kommentar vom 25. Februar 2012 darauf aufmerksam gemacht, dass die offizielle Übersetzung zahlreiche Fehler enthält. Von daher legte sie dort eine überarbeitete Übersetzung der Rede von Ismail Yozgat vor.

In der Version der offiziellen Dolmetscherin beginnt Yozgat seine Ansprache damit, die „Exzellenzen“ und „vor allen Dingen unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel“ zu begrüßen.

In Wirklichkeit beginnt die Ansprache jedoch mit dem Ausspruch „Bismillahi r-rahmani r-ahimi“, der übersetzt bedeutet: „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen“. Von „Exzellenzen“ spricht Ismail Yozgat in der Folge ebenso wenig, wie er Angela Merkel namentlich erwähnt oder sie besonders hervorhebt. Stattdessen heißt es in seiner Begrüßung ganz schlicht:

„Lieber Präsident, liebe Bundeskanzlerin, liebe Gäste, ich grüße Sie alle in Respekt.“

Im weiteren Verlauf übersetzt die offizielle Dolmetscherin den Redner damit, dass er sich herzlich bei seiner „Heimatstadt Baunatal“ bedanken möchte. Stattdessen dankt Herr Yozgat „all jenen Menschen aus Kassel-Baunatal und Umgebung“ und spricht in diesem Zusammenhang nicht von seiner „Heimatstadt“.

Nun schildert Ismail Yozgat, wie er durch Barbara John per Brief das Angebot einer Zahlung in Höhe von 10.000 Euro erhielt. In der Version der Dolmetscherin bedankt sich der Redner zweimal „herzlich“ für das Angebot, lehnt es ab und bittet stattdessen um „seelischen Beistand“.

Ein Blick in die tatsächliche Rede zeigt, dass Herr Yozgat das Entschädigungsangebot nur kurz erwähnt und erklärt, seine Familie wolle dies nicht annehmen. Die Bitte nach „seelischen Beistand“ entstammt ebenso der Fantasie der Dolmetscherin, wie die zweifache Dankesbekundung für die Entschädigungssumme. Ismail Yozgat hat beides nie gesagt.

Der Redner äußert insgesamt drei Wünsche. Er will, dass die Mörder und ihre Helfer gefangen werden. Er wünscht sich, dass die Holländer Straße in Kassel nach seinem Sohn Halit benannt wird und er möchte, dass im Namen der Ermordeten eine Stiftung für Krebskranke gegründet wird.

Vor allem in Bezug auf den ersten Wunsch folgt die offizielle Dolmetscherin wiederum nicht dem Wortlaut der Rede. Sie übersetzt hier „Und unser Vertrauen in die deutsche Justiz ist groß“, während Ismail Yozgat in Wirklichkeit sagte:

„Mein Vertrauen in die deutsche Justiz war immer vorhanden, von nun an, so hoffe ich, wird es vollkommen sein, Insallah, so Gott will“

Man mag sich darüber streiten, wie wesentlich die einzelnen Übersetzungsfehler sind. Allerdings ist es eine Frage des Respekts, dem Vater eines der Opfer, derer bei der Veranstaltung gedacht wurde, keine Worte in den Mund zu legen, die er nie gesagt hat und im Gegenzug wichtige Bestandteile seiner Ansprache einfach wegzulassen.

Anspruch und Wirklichkeit: Vom Umgang mit den NSU-Opfern

Anspruch und Wirklichkeit

Mittlerweile hat sich die CDU Fraktion in Kassel dagegen ausgesprochen, dass die Holländer Straße nach Halit Yozgat benannt werden soll. Ein Umbenennungsverfahren provoziere auch Widersprüche und könne langwierig und unwürdig werden. In Kassel scheinen konservative Politiker den berechtigten Wunsch des Vaters von Halit Yozgat demnach nicht wichtig genug zu nehmen, um für dessen Erfüllung auch nur den geringsten bürokratischen Aufwand auf sich zu nehmen.

Handelt es sich hierbei um ein Symbol dafür, wie Politik, Behörden und Gerichte in Deutschland tatsächlich mit rechtem Terror und seinen Folgen umgehen? Ist es nicht billig, im Rahmen einer offiziellen Gedenkveranstaltung salbungsvolle Worte zu finden und ergreifende Symbole zu präsentieren, wenn sich im Alltag gar nichts ändert? Die folgenden Beispiele sollen den auffälligen Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit in unserem Land zeigen:

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Nazi-Aufmarsch in Pforzheim

Noch am Abend der Gedenkveranstaltung versammelten sich in Pforzheim 130 Nazis, um, ausgerüstet mit lodernden Fackeln, an den „Völkermord“ der Alliierten an den Bewohnern Pforzheims vor 67 Jahren zu erinnern. Am 20. Februar 2012 hat das Verwaltungsgericht in Karlsruhe zu Gunsten einer rechtsextremen Organisation entschieden, der die Stadtverwaltung das Mitführen von Fackeln bei ihrem geplanten Aufmarsch verboten hatte.

In der Begründung des Gerichts hieß es, das Mitführen von Fackeln verstoße nur dann gegen die öffentliche Ordnung, wenn Fackeln als „typische Symbole der Darstellung nationalsozialistischer Machtausübung in aggressiv-kämpferischer Weise” eingesetzt würden.

Vor dem Hintergrund unserer Geschichte gehört schon eine ganze Menge Ignoranz dazu, einen Aufzug von 130 schwarz gekleideten Nazis, die mit Springerstiefeln durch die Stadt marschieren und dabei lodernde Fackeln schwenken, nicht als „Symbol nationalsozialistischer Machtausübung“ zu betrachten. Den Aufmarsch in dieser martialischen Form ausgerechnet für den Abend der zentralen Gedenkveranstaltung für die NSU Opfer zu genehmigen, hinterlässt wohl jeden Beobachter sprach- und fassungslos.

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Rassistischer Kalender der Polizeigewerkschaft

Am 29. Februar gelangte ein Kalender des bayerischen Landesverbandes der Deutschen Polizeigewerkschaft in die Öffentlichkeit. Insgesamt 3.000 Exemplare des Druckwerkes sollen sich im Umlauf befinden. Gezeigt werden hier Karikaturen aus dem „Polizeialltag“, mit eindeutig rassistischen Bezügen.

Für den Monat März ist hier ein grade verhafteter schwarzer Mensch im Polizeigriff zu sehen, der sich mit den Worten „… was heiß’ hie’ Ve’dunklungsgefah’….?!“ zur Wehr setzt. Das Januar-Blatt des Kalenders zeigt die „Heiligen Drei Könige“. Hier ist es wiederum ein schwarzer Mensch, der hinter zwei Polizisten kniet und Kamel-Exkremente aufheben muss. Hierzu der Text: „… die Grünanlagenverordnung gilt auch für Weise aus dem Morgenland“. Ein anderes Blatt zeigt junge, sich prügelnde Männer, offensichtlich mit ausländischen Wurzeln. Einer von ihnen sagt angesichts eines „Polizei-Transformers“ in der Szenerie: „Boah… krass… 3ern BMW…!

Man stelle sich vor, wie es einem Menschen zumute ist, der sich, ob freiwillig oder erzwungen, in einer Polizeidienststelle aufhält und dort eine Karikatur erblicken muss, die ihn selber auf rassistische Weise diffamiert. Wie soll er sich den Beamten vertrauensvoll zuwenden, wenn er den Eindruck gewinnen muss, dort massiven Vorurteilen ausgesetzt und der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein.

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Studie über junge Muslime in Deutschland

Ebenfalls am 29. Februar veröffentlicht die BILD-Zeitung vorab und exklusiv Ausschnitte aus dem Abschlussbericht eines Forschungsprojektes des Bundesinnenministeriums. Der Titel der Studie: „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“. Hierbei handelt es sich um eine komplexe Langzeituntersuchung, die sich rein qualitativ mit der Frage beschäftigt, welche Kriterien sich empirisch begründen lassen, um junge Muslime in Deutschland auf der Grundlage ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen als integriert beziehungsweise radikalisiert und unter Umständen extrem islamistisch beurteilen zu können.

Die BILD-Zeitung bezeichnet die Untersuchung als „Schock-Studie“, greift einen Teilaspekt heraus, deutet ihn sinnentfremdend um missbraucht ihn zur populistischen Hetze gegen Muslime in Deutschland. Hier heißt es plötzlich, dass 20 Prozent aller Muslime in Deutschland eine Integration ablehnen und dass jeder vierte Muslim ohne deutschen Pass tendenziell gewaltbereit ist.

Erst am Tag darauf veröffentlicht das Bundesinnenministerium die vollständige Studie im Internet. Zuvor haben bereits Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), Innenpolitiker Hans-Peter Uhl (CSU), der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) gegenüber der Bildzeitung islamkritische und beleidigende Statements abgegeben, während Thilo Sarrazin öffentlich jubiliert, dass seine Thesen endlich von einer wissenschaftlichen Studie bestätigt werden.

Der tatsächliche Abschlussbericht des Forschungsprojektes besagt vor allem, dass „gruppenbezogene Diskriminierung“ eine wesentliche Ursache für fehlende Integrationsbereitschaft bildet und stellt darüber hinaus fest, dass der Anteil „radikaler Fundamentalisten und Rechtfertiger ideologisch fundierter Gewalt ohne Integrationsneigung“ unter den jungen Muslimen in Deutschland ausgesprochen gering ist.

Ein Nebenaspekt der Untersuchung kommt übrigens zu dem Schluss, dass Muslime, die nach dem Erscheinen des Buches von Thilo Sarrazin interviewt wurden, mehr Vorurteile und eine größere Ablehnung gegenüber Deutschland und dem Westen an den Tag legten als jene, die zuvor befragt wurden.

Der erste Kommentar von Innenminister Hans-Peter Friedrich zu dem Forschungsprojekt, ebenfalls exklusiv in der BILD-Zeitung veröffentlicht, lautet erwartungsgemäß:

„Wir akzeptieren nicht den Import autoritärer, antidemokratischer und religiös-fanatischer Ansichten.“

Es versteht sich wohl von selber, dass Friedrich hiermit nicht die Übertragung bayerischer Verhältnisse, Kultur und religiöser Vorstellungen auf den Rest der Republik meint, sondern allen Ernstes von Muslimen in Deutschland spricht.

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Eine furchtbare Fehlbesetzung

Alle dargestellten Vorgänge haben sich unmittelbar vor oder nach der zentralen Gedenkfeier für die NSU Opfer am 23. Februar 2012 abgespielt. Die CDU-Fraktion in Kassel lehnt die Umbenennung der Straße zu Ehren des ermordeten Halit Yozgat ab. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe genehmigt einen Fackelaufmarsch von Nazis in Pforzheim. Die Deutsche Polizeigewerkschaft unterhält ihre bayerischen Mitglieder mit rassistischen Karikaturen und der Innenminister lässt es zu, dass die BILD-Zeitung ein Forschungsprojekt seines Ministeriums zur Hetze auf Muslime missbraucht, an der er sich, gemeinsam mit seinen Partei-Kameraden, auch noch ausgiebig beteiligt.

Vor dem Hintergrund der tatsächlichen Verhältnisse in unserem Land ist die zentrale Gedenkfeier nichts anderes, als eine publikumswirksame Farce und eine Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen. Die Kanzlerin beklagt, wir würden „zu schnell verdrängen, was unter uns geschieht“. Um etwas „verdrängen“ zu können, müsste man es zunächst jedoch wahrnehmen. Politik, Medien und Behörden wollen allerdings gar nicht erst bemerken, wie es in Bezug auf Rechtsextremismus, Alltagsrassismus und schleichenden Faschismus tatsächlich um unsere Land bestellt ist. Sie sind entweder selber zu tief in Strukturen verstrickt, die dem braunen Pack Vorschub leisten oder zu sehr damit beschäftigt, sich auf künftige Wahlergebnisse und eigene Karriereschritte zu konzentrieren.

Die verantwortlichen Akteure des Staates genieren sich nicht einmal, den Angehörigen der NSU Opfer feierlich zu versprechen, dass sich Vergleichbares nicht wiederholen wird. Dieses Versprechen ist den Atem nicht wert, mit dem es gesprochen wird, solange sich nichts an den eigentlichen Ursachen für Diskriminierung, Ausgrenzung oder Fremdenfeindlichkeit ändert und solange der Rassismus in der Gesellschaft mit einem „Augenzwinkern“ betrachtet wird.

Es sind vor allem Politiker der CSU, die durch populistische Äußerungen und offene Hetze gegen jeden, der nicht in ihr überkommenes „Leitbild“ passt, rassistische Positionen in Deutschland immer wieder „salonfähig“ machen. Einer von ihnen ist als Innenminister gleichzeitig der oberste Hüter der Verfassung. Eine furchtbare Fehlbesetzung.


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