Ansichten eines Putinverstehers

Von Hartstein

„Das Bekenntnis ein „Putinversteher“ zu sein, scheint eine zweischneidige Sache. Dass „Verstehen“ nicht „Zustimmung“ heißt und ein „Versteher“ nicht dasselbe ist wie ein „Verehrer“ – diese semantische Eindeutigkeit ist möglicherweise nicht so selbstverständlich wie sie sein sollte. Zumal „Putinversteher“ seit der Eskalation der Ukraine-Krise als Denunziationsvokabel für jeden gebraucht wurde, der die Verantwortung für den Bürgerkrieg nicht allein Russland zuschreiben wollte. Wir, der Westen, sind immer die Guten, weil wir „Freiheit“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ auf unsere Fahnen schreiben, wenn wir imperiale Kriege führen. Wir sind auch immer unschuldig, wenn wir dabei Länder besetzen, Staaten zerstören, Zivilisten ermorden, Menschen foltern usw. – das sind „Kollateralschäden“, die wir zwar anrichten aber nie beabsichtigen. Das tun nur die Bösen, Leute wie Putin, die aus reiner Machtgier handeln, wenn sie etwa Zivilflugzeuge vom Himmel holen ohne einen Schuss abzugeben, aber es ist klar, dass sie es waren. Weil sie die Bösen sind.



Es scheint aber indessen, dass sehr viele Bürger noch über genügend gesunden Menschenverstand verfügen und spüren, dass sie mit diesem Schwarz-Weiß-Film über einen stets das Gute wollenden Westen, der hilflos dem aggressiven Mega-Schurken Osama Bin Putin ausgesetzt ist, über den Tisch gezogen werden. Selten klafften öffentliche und veröffentlichte Meinung in Deutschland weiter auseinander wie im Zusammenhang dieses Konflikts. Dass sich die Leitartikler und Redakteure der Großmedien noch wundern, auf wie viel Unglauben (und Leserproteste) sie mit ihrer Inszenierung des Kreml als wiedergeborenen Hort des Bösen stoßen, ist allerdings verwunderlich, denn schon ein kurzer ein Blick auf die Landkarte zeigt, wie sich die NATO in den letzten 20 Jahren ausgebreitet hat.

„Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen,“ notierte der Wiener Schriftsteller Karl Kraus, nachdem auf eine Falschmeldung der deutschen und österreichischen Presse über einen französischen Bombenabwurf auf Nürnberg Ende Juli 1914 unmittelbar die Kriegserklärung an Frankreich erfolgt war. Dieser fingierte Bericht war für ihn die Urlüge und das Paradebeispiel für die Manipulation der Massen in Kriegszeiten, die Kraus dazu führte, „den Journalismus und die intellektuelle Korruption, die von ihm ausgeht, mit ganzer Seelenkraft zu verabscheuen.“

Die Art und Weise, wie der Journalismus, auch der sogenannten „Qualitätspresse“, den Konflikt in der Ukraine darstellt, gibt allen Anlass, diesen Abscheu nachzuempfinden. Wie aber sollen wir, der Souverän, das Volk, entscheiden, welche Position in diesem Konflikt vernünftig ist, wenn Politik und Medien die Agenda der USA und der NATO und die zugrundeliegende militärische Doktrin des anglo-amerikanischen Imperiums, die globale „Full Spectrum Dominance“, systematisch ausblenden ? Und damit auch die dazu notwendige geopolitische Strategie, den Rohstoffriesen Russland, der über etwa ein Drittel aller planetaren Rohstoffe verfügt, militärisch und ökonomisch unter Kontrolle zu bringen. Nur wenn über diesen amerikanischen Masterplan einer unipolaren Welt gesprochen wird, nur wenn die Interessen des Westens und die Russlands offen auf dem Tisch liegen, kann über Krieg und Frieden in der Ukraine wieder vernünftig gesprochen und erfolgreich verhandelt werden. Und die entscheidende Frage beantwortet werden, ob es wirklich im Interesse Deutschlands und Europas ist, diesem Masterplan weiter zu folgen. Dass der französische und der deutsche Außenminister mit ihren russischen und ukrainischen Kollegen mittlerweile ohne Beisein der USA verhandeln scheint immerhin anzudeuten, dass „Old Europe“ auch seine eigene Interessen vertritt, die nicht deckungsgleich sind mit den geostrategischen Interessen der einzigen Weltmacht. Am Ende unseres heute erscheinenden Buchs heißt es dazu:

„Wandel durch Annäherung“ lautete 1963 die von Egon Bahr geprägte Formel, die eine neue deutsche Ostpolitik einleitete, als Alternative zur alten Politik der Stärke der Versuch des gegenseitigen Verstehens und Verhandelns. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer, der den Erfolg dieser visionären Strategie krönte, ist es höchste Zeit, sich wieder an dieses außenpolitische Erfolgsmodell zu erinnern – zumal mit dem Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht und Russlands zur Rohstoffmacht Nummer eins die Tatsache einer künftigen multipolaren Welt unabweisbar und ein Festhalten an der Doktrin der unipolaren Vorherrschaft der USA damit schlicht irrational ist. Mitten in Europa kommt Deutschland deshalb eine Schlüsselfunktion zu, eine Alternative zu entwickeln, gegen eine neue Politik der Stärke, die keine Perspektive hat – außer der nuklearen Apokalypse eines Dritten Weltkriegs.“

Quelle und gesamter Text: http://www.nachdenkseiten.de/?p=23095