Anschluß statt Einheit

Folgender Beitrag ist in der Tageszeitung Junge Welt erschienen und stammt von Gregor Schirmer.
Gregor Schirmer ist Professor für Völkerrecht. Er war Stellvertreter des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen der DDR und stellvertretender Abteilungsleiter im ZK der SED.
Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er. 
Tacitus, Annalen III, 27 
Nun ist die Juristerei keineswegs eine Naturwissenschaft. Das heißt, die jeweiligen Erkenntnisse, Deutungen und Ansichten unterliegen keinen ehernen Gesetzen. Sie sind veränderbar und beliebiges Instrument der jeweils Herrschenden und Mächtigen. Ob nationale oder internationale Vereinbarungen und Gesetze, eine unübersehbare Beliebigkeit in der Auslegung, Anwendung und Achtung der Gesetze ist nicht zu leugnen. Nicht umsonst werden die Rechtsvorschriften oftmals sehr schwammig verfasst, um genügend Spielraum für mögliche Interpretationen zu lassen. Hinzu kommt, daß viele Gesetze durch andere Gesetze eingeschränkt oder aufgehoben werden können.
Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen.
Tacitus
Die Menschheit besitzt zu viele statt zu wenige Gesetze, doch fordern die Einfaltspinsel jeglicher Couleur nach immer neuen Paragraphen. Jeder weitere Paragraph ist ein Angriff auf die Freiheit des Menschen und richtet sich gegen die menschliche Vernunft, gegen die menschliche Fähigkeit zur Eigenverantwortung und Gemeinschaft.
Der Mensch wird somit entmündigt, zur Ohnmacht erzogen und seiner Verantwortung beraubt.
Gesetze sind Macht, versteckt in Paragraphen. 
Ohne Gesetze geht es nicht? Doch, es geht ohne (menschengemachte) Gesetze. Oder benötigen sie erst ein Gesetz dafür, daß sie keiner Oma deren Handtasche zu rauben oder nicht ihr Altöl in den Badesee zu kippen haben? Die heutige Menschheit ist zu verkommen und unfähig, als daß sie ohne ihren Ozean aus Gesetzen an ihre  Existenzfähigkeit glaubt. Doch muß dies nicht zwangsläufig auch für die Menschheit von (Über-) Morgen gelten.
Die Menscheit von heute ist es kaum wert, daß man ihr gutgemeinte Ratschläge erteilen sollte. Für kommende Generationen gilt dies nicht. Ob und welche Gesetze es erfordert, ist summa summarum nur eine Frage der jeweiligen Kultur und Gesellschaftsordnung, also eine Frage der kollektiven Bewußtseinsebene.
Doch nun zum Text von Gregor Schirmer. Dieser Text befasst sich mit dem "Ersatzfriedensvertrag" (2+4- Vertrag) und zeigt auf, wie Beliebigkeit, Willkür und Machtverhältnisse die Entstehung und Umsetzung von Gesetzen beeinflussen.
Anzumerken bleibt, daß der Verfasser dieser Zeilen nicht zwangsläufig die Sichtweise des Gregor Schirmer teilt.
Vor 20 Jahren wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet. Die BRD verleibte sich die DDR unter Umgehung europäischer Bedenken im Schnellverfahren ein
Von Gregor Schirmer
Anschluß statt EinheitAußenminister Hans-Dietrich Genscher (r.) erklärt mit seiner Unterschrift, »daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird«. Neun Jahre später überfällt die BRD Jugoslawien (v.l.n.r.: die Außenmini
Foto: AP

Mit »Zwei plus Vier« wird jener völkerrechtliche Vertrag bezeichnet, der die Tür zur internationalen Zustimmung zum Anschluß der DDR an die BRD geöffnet hatte. »Zwei« steht für die zwei deutschen Staaten, »Vier« für die Sieger- und ehemaligen Besatzungsmächte Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion, heute als deren Rechtsnachfolger Rußland, und die USA. Offiziell heißt er »Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland«, ein seltsamer Titel, der nur notdürftig kaschiert, daß es ausgerechnet mit Deutschland, dem Rechtsnachfolger des faschistischen Verbrecherstaats, keinen Friedensvertrag gab, während mit den Verbündeten Nazideutschlands Italien, Finnland, Ungarn, Rumänien und Bulgarien 1947 Friedensverträge zustande kamen und mit Österreich 1955 ein Staatsvertrag abgeschlossen wurde. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag

war ein unvollkommener Ersatz dafür. Ein Friedensvertrag mit Deutschland war nicht mehr zu haben. Eine entsprechende Idee der sowjetischen Delegation während des Zwei-plus-Vier-Prozesses stieß auf Ablehnung. Ein Friedensvertrag hätte Verhandlungen mit allen Kriegsgegnern Hitlerdeutschlands erfordert. Das hätte den schnellen Anschluß der DDR an die BRD gefährdet.
Der Vertrag wurde vor 20 Jahren, am 12. September 1990, drei Wochen vor dem Beitritt der DDR zum »Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23«, von den Außenministern Roland Dumas (Frankreich), Eduard Schewardnadse (UdSSR), Douglas Hurd (Großbritannien) und James Baker (USA) sowie von Außenamtschef Hans-Dietrich Genscher (BRD) und von dem für die DDR amtierenden Außenminister Ministerpräsident Lothar de Maizière in Moskau unterzeichnet. Am Anschlußtag, dem 3. Oktober war der Vertrag noch gar nicht ratifiziert. Eine Ratifikation durch die nicht so ganz frei gewählte Volkskammer der DDR war nicht vorgesehen. Die deutsche Ratifikation oblag dem Bundestag, der durch 144 Abgeordnete der Volkskammer der DDR erweitert worden war. Die meisten Volksvertreter aus der damaligen PDS stimmten dem Vertrag zu; einige enthielten sich der Stimme.
Der Vertrag war in Rekordzeit gezimmert worden. Am Rande einer gemeinsamen Konferenz der Außenminister der NATO- und der Warschauer Vertragsstaaten in Ottawa kamen die Außenminister der vier Siegermächte und der zwei deutschen Staaten am 13. Februar 1990 überein, daß sie sich treffen werden, »um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen«. Der Anschluß der DDR war damals zwischen Bonn, Washington und Moskau bereits ausgemachte Sache. Die DDR war nur noch Objekt. Aber ohne Aushandeln von Bedingungen mit allen vier Siegermächten wäre der schnelle Anschluß nicht möglich gewesen. Die Regierung um Bundeskanzler Helmut Kohl hatte es eilig. Sie wollte die einmalige Chance nicht vorbeigehen lassen. Der prinzipiellen Zustimmung des Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow war sie spätestens seit dem Treffen in Moskau und im Kaukasus am 10. bis 12. Februar 1990 sicher. Die USA machten ohnehin mit. Frankreich und Großbritannien, Träger schwerwiegender Bedenken gegen die deutsche Einheit, warteten vergeblich darauf, daß sich die Sowjetunion querlegen würde.
Der Zwei-plus-Vier-Prozeß war jedoch eine makabre Abfolge von Kapitulationen jener Macht, die den Hauptanteil am Sieg und an der Befreiung Europas vom Faschismus hatte. Nach Außenministertreffen im Mai 1990 in Bonn, im Juni in Berlin (DDR), im Juli in Paris und am 12. September in Moskau sowie nach einem grotesken Versuch Großbritanniens, im letzten Augenblick ein Recht der Westmächte im Vertrag zu verankern, sich an Truppenmanövern mit konventionellen und atomar verwendbaren Waffen auf dem Gebiet der DDR zu beteiligen, war der Vertrag fertig.
In Kraft trat er am 15. März 1991, als alle Einheitsmessen bereits gesungen waren und die Sowjetunion nach einigen kontroversen Debatten im Obersten Sowjet ihre Ratifikationsurkunde in Bonn hinterlegt hatte. 
Abkopplung von Europa
Der Vertrag spricht durchweg vom »vereinten Deutschland«. Das konnte so mißverstanden werden, als sei ein neuer Staat entstanden, eben das vereinte Deutschland. In Wirklichkeit war »Zwei plus Vier« die internationale Absegnung des Anschlusses der DDR an die BRD. Für nicht wenige ostdeutsche Linke, die sich an die oft beschworenen – ich zitiere aus dem Freundschaftsvertrag von 1975 – »Beziehungen der ewigen und unverbrüchlichen Freundschaft und der brüderlichen gegenseitigen Hilfe« zwischen der UdSSR und der DDR erinnerten, war der Vertrag die völkerrechtliche Besiegelung des Verkaufs der DDR an die BRD durch Gorbatschow und seinen Außenminister Schewardnadse zu Spottpreisen und auf Kosten der Bevölkerung der DDR. Internationale Absicherungen von Rechten der Bürgerinnen und Bürger der untergehenden DDR oder entsprechende Vorbehalte der Sowjetunion sucht man in dem Vertrag vergebens. Gorbatschow und Schewardnadse ließen der Bundesrepublik freie Hand im Umgang mit deren Todfeind, der DDR.
Politiker der BRD wurden in Zeiten der Spaltung nicht müde zu beteuern, daß die Einheit Deutschlands nur im Kontext mit der Einheit Europas erstrebt wird. Ich erinnere an den »Brief zur deutschen Einheit«, den Walter Scheel anläßlich der Unterzeichnung des Vertrags zwischen der BRD und der UdSSR am 12. August 1970 im sowjetischen Außenministerium abgeben ließ, in dem als politisches Ziel der BRD benannt wurde, »auf einen Zustand in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt«. Praktisch fand im Zwei-plus-Vier-Prozeß die Entkopplung zwischen der deutschen und der europäischen Einigung statt. Andere europäische Staaten – außer Frankreich und Großbritannien – waren nicht gefragt. Nur Polens Regierung wurde einmal gehört, als es um die deutsch-polnische Grenze ging. Der Prozeß wurde an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vorbeiorganisiert. Sie durfte post festum mit der »Charta von Paris für ein neues Europa« vom 21. November 1990 die Herstellung der Einheit Deutschlands »aufrichtig« begrüßen. Von der angeblichen Verflechtung zwischen deutscher und europäischer Einheit blieben im Zwei-plus-Vier-Vertrag nur unverbindliche Redewendungen über ein vereintes Europa. Im operativen Teil des Vertrags kommt Europa nicht vor. Die KSZE wurde 1995 zu einer festen Organisation ausgebaut, zur OSZE, aber sie wurde nicht der angekündigte Hort gesamteuropäischer Sicherheit und Zusammenarbeit. Sie wurde an den Rand des europäischen Geschehens gedrängt. 
Endgültige Grenzen Deutschlands
Heute ist der Zwei-plus-Vier-Vertrag aus dem öffentlichen Gedächtnis weitgehend verschwunden. Kaum ein Politiker bezieht sich auf seine Bestimmungen. Umso wichtiger ist es, daß Linke an den Ersatzfriedensvertrag erinnern. Der Vertrag und seine Wirkung sind aus heutiger Sicht differenziert zu bewerten. Einige Bestimmungen sind erledigt oder durch die Zeit überholt, wie die über den Abzug der sowjetischen Truppen oder über die zahlenmäßige Begrenzung der deutschen Streitkräfte. Die verbriefte Bündnisfreiheit Deutschlands hat die NATO gestärkt – und damit den Weltfrieden geschwächt. An andere Bestimmungen ist zu erinnern, weil sie für den Kampf um Frieden und Sicherheit in Europa und für die Verpflichtungen des größer gewordenen Deutschlands nach wie vor von Bedeutung sind.
Die Weigerung aller Regierungen der BRD, die Endgültigkeit der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße anzuerkennen, hat über Jahrzehnte die Beziehungen Polens zum deutschen Weststaat belastet und den Frieden in Europa gefährdet. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag hat eine endgültige Regelung getroffen.
Artikel 1 Absatz 1 lautet: »Das vereinigte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschlands ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.« Im Absatz 3 wird festgelegt, daß Deutschland keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten hat und solche auch in Zukunft nicht erheben wird.
Das ist eine Festschreibung von geradezu welthistorischem Rang. Die deutschen Außengrenzen im Osten, Süden, Westen und Norden bleiben ein für allemal so, wie sie 1990 zwischen der BRD und der DDR einerseits und ihren Nachbarstaaten andererseits bestanden. Diese Grenzen dürfen auch durch friedliche Mittel nicht geändert werden.
Für die Oder-Neiße-Grenze wurde diese Rechtslage durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990 unter ausdrücklicher Berufung auf das früher von Politikern der BRD als Hochverrat bewertete Abkommen vom 6. Juli 1950 zwischen der DDR und Polen bestätigt, das die Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und Jozef Cyrankiewicz unterzeichnet hatten. Es bleibt Aufgabe der Friedenskräfte beider Länder, darüber zu wachen, daß kein deutscher Revanchist jemals diese Grenze in Frage stellt. 
Kein Krieg von deutschem Boden
In Artikel 2 wird ein striktes Friedensgebot für das vereinte Deutschland formuliert. Die zwei deutschen Staaten bekräftigen »ihre Erklärungen, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird«. Die Formel stammt aus der »Gemeinsamen Erklärung« der Staatschefs Erich Honecker und Helmut Kohl vom 15. März 1985 in Moskau. In den Artikel wurde die Bestimmung des Grundgesetzes aufgenommen, daß »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu gefährden, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar« sind. Es wird erklärt, »daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen«. Die deutschen Waffeneinsätze in den Kriegen gegen Jugoslawien und in Afghanistan standen und stehen weder in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz noch mit der UN-Charta und sind somit schwerwiegende Brüche des Zwei-plus-Vier-Vertrags. 20 Jahre nach dessen Abschluß verfolgt die BRD mit Einsätzen der Bundeswehr in aller Welt imperialistische außenpolitische Ziele. Von deutschem Boden geht wieder Krieg aus.
Das Friedensgebot war die conditio sine qua non für die Zustimmung der Siegermächte zum vereinten Deutschland. Ich erinnere an das Potsdamer Abkommen von 1945, in dem als Konsequenz aus dem von Deutschland zu verantwortenden Zweiten Weltkrieg festgelegt war, den deutschen Militarismus und Nazismus auszurotten, dem deutschen Volk die Möglichkeit zu geben, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage wiederaufzubauen und dann seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen. Das Friedensgebot ist ein Nachklang zum Potsdamer Abkommen. 
Keine Massenvernichtungswaffen
Anschluß statt Einheit
Moskaus fatale Fehleinschätzung der militärischen Folgen des Anschlusses: NATO und Warschauer Vertrag würden in ein gesamteuropäisches Sicherheitsbündnis verschmelzen (russische Ehrenkompanie in Wünsdorf/Berlin, 16.7.1993)
Artikel 3 bekräftigt den deutschen »Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen«. Diese Selbstverpflichtung, die im Einklang mit dem geltenden Völkerrecht und mit der Zugehörigkeit Deutschlands zu den Verträgen über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, über das Verbot biologischer und chemischer Waffen steht, sollte von Deutschland als Aufforderung wahrgenommen werden, eine konstruktiv-fordernde Rolle im Kampf gegen Massenvernichtungswaffen zu spielen.
Nach Artikel 5 werden in Ostdeutschland »ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger weder stationiert noch dahin verlegt«. Berlin und die fünf neuen Bundesländer sind also eine von Atomwaffen und ausländischen Militärstützpunkten freie Zone mitten in Europa. Das ist gut so. Es wäre dem Frieden und der Sicherheit in Europa zuträglich, wenn dieser Status auf ganz Deutschland ausgedehnt würde und die Militärbasen der USA aufgelöst und deren Atomwaffen abgezogen würden. Das erfordert Konsequenzen seitens der Bundesregierung statt kriegsbegünstigender NATO-Treue und Unterordnung unter die USA. 
Expansion der NATO
Artikel 6 anerkennt das »Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören«. Das war die freundliche Umschreibung der Zustimmung der Sowjetunion zur Mitgliedschaft des vereinten Landes in der NATO und der Aufgabe bisheriger Postulate, daß es nur ein blockfreies vereinigtes Deutschland geben könne. Mit dem Einverständnis zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland hatte die UdSSR keine Forderung verbunden, daß die Westmächte ihre Truppen aus Westdeutschland ebenfalls abziehen.
Vorbehalte gegen die Erweiterung der NATO in Richtung Osten wurden nicht gemacht. Man gab sich mit vagen Zusicherungen über »Wandlungen« der NATO zufrieden. Die Naivität Gorbatschows und seiner Adlaten gegenüber den Absichten des US-Präsidenten Bush sen. und Kohls waren – man muß es wohl so sagen – in einen Verrat an den ureigensten Interessen der Sowjetunion umgeschlagen. Es war schon eine grobe Irreführung, wenn der sowjetische Außenminister Schewardnadse dem Obersten Sowjet der UdSSR die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages mit der Behauptung schmackhaft machte: »In der Perspektive werden die NATO und der Warschauer Vertrag zu Bestandteilen, zu Elementen gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen und sich dann, so scheint es, in ihnen auflösen.« Aufgelöst hat sich nur der Warschauer Vertrag. Die eigentlich überflüssig gewordene NATO lebt als globale militärische Interventionsmacht weiter und hat sich heute bis an die Grenzen Rußlands vorgeschoben. 
Rückgewinnung der Souveränität
Mit Artikel 7 Absatz 1 haben die vier Siegermächte ihre bisher vorbehaltenen »Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes« endgültig aufgegeben. Diese Rechte und Verantwortlichkeiten hatten sich die vier Mächte über alle Gegensätze hinweg bewahrt. Als die zwei deutschen Staaten 1973 in die UNO aufgenommen wurden, ließen die ehemaligen Alliierten in einer ihrer seltenen gemeinsamen Erklärungen wissen, daß die Mitgliedschaft der zwei deutschen Staaten in der UNO »die Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Mächte und die bestehenden diesbezüglichen vierseitigen Regelungen, Beschlüsse und Praktiken in keiner Weise berührt«.
Diese vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken wurden 1990 für beendet erklärt. Damit traten das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945, die Beschlüsse des Alliierten Kontrollrats (1945–1947) und das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3. Juni 1972 außer Kraft. Absatz 2 in Artikel 7 des Zwei-plus-Vier-Vertrags lautet: »Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.« Die neue deutsche Frage ist, mit welchen Zielen das Land seine volle Souveränität wahrnimmt. Für neue imperialistische Politik oder für Frieden und internationale Sicherheit? Darum geht der Kampf zwischen den politischen Kräften in Deutschland. Für diesen Kampf hat der Zwei-plus-Vier-Vertrag die Verantwortung in die Hände der Deutschen selbst zurückgegeben. 
Deutsch-deutscher Brief
Nicht in Vergessenheit geraten darf der Gemeinsame Brief des Bundesministers des Auswärtigen der BRD, Hans-Dietrich Genscher, und des amtierenden Außenministers der DDR, Lothar de Maizière, an ihre vier Amtskollegen »im Zusammenhang« mit der Unterzeichnung des Vertrags. Die Punkte in diesem Brief gehören eigentlich in den Vertrag selbst, was die Sowjetunion wohl auch hätte durchsetzen können. Aber absichtsvoll wurden diese Punkte in den Brief abgedrängt, zu dem es keine bestätigende Antwort der Adressaten gibt und der auch nicht Gegenstand des Ratifikationsverfahrens im Bundestag war.
Der erste Punkt betrifft die »Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage (1945–1949)«. Sie »sind nicht mehr rückgängig zu machen. Die Regierungen der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik sehen keine Möglichkeit, die damals getroffenen Maßnahmen zu revidieren. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nimmt dies im Hinblick auf die historische Entwicklung zur Kenntnis.« Das Satzgefüge stammt aus einer deutsch-deutschen Erklärung vom 15. Juni 1990, wurde in den Einigungsvertrag übernommen (Artikel 41 und Anlage III) und kam von da in den Gemeinsamen Brief. Es ist also mehrfach juristisch abgesichert. Man muß sich das merken, weil die Angriffe auf die demokratische Bodenreform nicht aufhören und die damalige Enteignung der Betriebe und Unternehmen der Kriegs- und Naziverbrecher in der sowjetischen Besatzungszone als Todsünde wider die kapitalistische Eigentumsordnung betrachtet werden.
Im zweiten Punkt verpflichtet sich Deutschland, daß »die auf deutschem Boden errichteten Denkmäler, die den Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind, geachtet werden und unter dem Schutz deutscher Gesetze stehen«. Kriegsgräber »werden geachtet und gepflegt«. Die Pflege der Denkmäler und Kriegsgräber der Sowjetarmee und ihrer Alliierten muß den Deutschen nicht nur selbstverständliche Pflicht, sondern eine Sache ehrenden Gedenkens an ihre Befreiung vom Faschismus sein.
Der dritte Punkt beinhaltet eine zwar schwächliche, nichtsdestotrotz positiv zu bewertende Bestimmung gegen das Wiederaufleben des Nazismus in Deutschland. Die zwei deutschen Staaten versichern, daß im vereinten Deutschland »auch Parteien und Vereinigungen mit nationalsozialistischen Zielsetzungen verboten werden können«. Das sollte durch das Verbot der NPD endlich wahrgemacht werden.
Der vierte Punkt notifiziert aus dem deutsch-deutschen Einigungsvertrag, daß die völkerrechtlichen Verträge der DDR »mit den Vertragspartnern der DDR erörtert werden sollen, um ihre Fortgeltung, Anpassung oder ihr Erlöschen zu regeln beziehungsweise festzustellen«. Die Verträge sind inzwischen samt und sonders in den Orkus des Erlöschens gefallen. Mir ist kein Fall der Fortsetzung oder Anpassung eines Vertrags der DDR bekannt. 
DDR war Friedensmacht
Präambeln zu völkerrechtlichen Verträgen enthalten oft nur Floskeln, die bald vergessen sind. An einen Punkt der Präambel des Zwei-plus-Vier-Vertrags muß erinnert werden. Es wird die Entschlossenheit der Vertragsparteien bekundet, »in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen«. Das ist eine verpflichtende Aufforderung an deutsche Außenpolitik, die sie durch Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen in den Wind geschlagen hat. Die DDR hat zeit ihres Lebens diese Entschlossenheit nicht nur bekundet, sondern auch praktiziert. 

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