Anonymität als Willkür

Dessen Mensch Motors dritter Teil

Ich sitze zwischen drei Damen mittleren Alters, die ich vor wenigen Minuten eigens angequatscht habe. Die Uhrzeit schwankt irgendwo zwischen zu früh und zu spät, aber für mich fühlt sie sich genau richtig an. Das Sofa, auf dem wir hier die Zeit vergessen ist nicht nur alt und verschlissen, sondern auch noch beige. Die schwarzen Unreinheiten auf dem Cordsamtbezug stammen vom Straßendreck an meinen Ledersohlen. Ununterbrochen texte ich die Frauen mit musikgeschichtlichen Themen voll und frage mich jeden Moment aufs Neue, warum sie mir stets zuhören und auch noch zustimmen. Alle fünf Minuten klatscht mir die Braunhaarige wild lachend auf meine Schulter während sich die etwas fülligere mit dem hässlichen Lippenstift an mein rechtes Bein klammert. Ich weiß nicht mehr, wie die drei Grazien heißen aber ich gehe fest davon aus, dass ihre Namen alle in Richtung Tamara gehen.

Käsebrettchen

Käsebrettchen

Die blonde Tamara schaut mich einfach immer nur versteinert, mit halb geöffnetem Mund, an. Sie ist wohl der schüchterne Part des Trios. Nach jedem Satz, den ich lauthals betone, lache ich extrem peinlich und spanne dabei meine Augenbrauen eher weinerlich an. Irgendein Getränk mit Wodka und Gurkenscheiben fließt in Strömen, ohne dass ich danach fragen muss. Den Ausschnitt der Brünetten habe ich irgendwann vollkommen mit der Plörre besudelt, was sie, dem Anschein nach, nicht im geringsten stört. Zwischendurch verlieren ihre Münder einzelne Wortschnipsel, die ich nur halbswegs abpasse. Die eine will mich zu einem Galadinner verführen, die andere drückt mir ihre gestalterisch bemitleidenswerte Visitenkarte vor meine Nase und die Stumme lacht nach einem halben Glas Champagner so irrwitzig komisch, dass ich Angst bekomme. Es kommt äußerst selten vor, dass ich nicht stetig einen Blick auf meine Armbanduhr werfe. Das Interesse an der Zeit ist jetzt wohl vollkommen verflogen.

Zwischen vernebelten Rauchwolken sehe ich Frederick am anderen Ende des Raumes wild mit den Händen winken. Ich frage mich noch nicht mal eine Sekunde, warum und tue so, als könne ich ihn nicht sehen, aus Angst, ich würde meinen Ehrenplatz auf dem Cordsamtsofa verlieren. Die Wörter, die nun aus meinem Mund heraussprudeln, kann ich selbst nicht mehr bremsen. Ich will die Damenbande ja nicht nur beeindrucken, sondern auch noch verwirren. Um ehrlich zu sein, und das versuche ich sowieso immer zu sein, sind die drei alle nicht besonders hübsch. Nein, noch nicht mal sexy, aufreizend oder süß. Ja, langsam wird es wohl doch Zeit, sich unauffällig zu verziehen. Wie gerufen kommt ein junges blondes Mädchen, mitte zwanzig, gehüllt in eine transparente bunte Seidenbluse, auf mich zu. Sie kommt ganz nah mit ihrem Zeigefinger an mein Gesicht und fragt mich:

“Bist du Alexander??”

Ich fühle mich sofort spioniert und kriege innerlich Panik, weil ich doch immer so unermüdlich an meiner Anonymität arbeite.

“Dein Freund, Frederick, liegt auf dem Frauenklo und kotzt!”

Auf einmal schließen sich wieder alle Kreise. Sie weiß meinen Namen nur durch den kotzenden Frederick. Das ist genehmigt und ich empfinde es sofort als überraschend positiv, dass er jetzt an der Toilette klammert. Ich löse mich von der Damengesellschaft ab und renne durch den Raum, als ob es mir wichtig wäre, wie es Frederick geht. Die Blonde geht voran, als würde ich den Weg nicht kennen, wobei mir dabei ein interessantes Parfum in die Nase fliegt. Margiela? Nein, es riecht eher holzig verrucht, aber leider fliegt meiner Nase rasch ein anderer Geruch entgegen. Mein Kumpane erbricht sich gerade herrlich ausgelassen und knallt die Klotür vollen Schamgefühls zu.

Ich muss plötzlich so utopisch laut lachen, dass es mich fast zu Boden zwingt. Warum, weiß ich nicht ganz genau. Womöglich hat der schwule Barkeeper wieder eine seiner geheimen Substanzen in meinen Getränken verloren. Ich sitze noch eine gute halbe Stunde auf dem schnapsbefleckten Kachelboden und bin meinem Lachen hoffnungslos ausgesetzt. Aus einem Blickwinkel kann ich das junge Mädchen von vorhin beobachten, wie sie sich im Spiegel die roten Lippen ausbessert und muss dabei sofort an Tankred denken. Dieser Unglücksgedanke befördert mich schleunig in die Realität zurück und ich klopfe etwas erschöpft an Fredericks Toilettentür.

“Ich lege mich jetzt mal eine Runde hin”, lallt er mit halb geschlossenen Augen, als er die Tür aufschließt, legt seinen matschigen Kopf auf meinen Schoß und schläft sofort ein. Ich befürchte, so schnell kommen wir von dieser Party nicht los…

Lale Nikki Eggers


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