Annie Ernaux. Die Jahre

Von Masuko

Als Studentin träumt Annie Ernaux davon, ein ganz besonderes Buch zu schreiben. Mysteriöse Dinge würde sie darin ausdrücken und eine neue überraschende Sprache finden wollen. Lange Zeit bleibt es bei ihrem Traum. Und es braucht tatsächlich ein ganzes Leben für dieses Buch (Les Années ist 2008 in Frankreich und Die Jahre 2017 bei Suhrkamp erschienen). Ein ganzes weiteres Jahr braucht es, dass ich es lese …

Annie Ernaux erzählt in kleinen Episoden von den vergangenen Jahrzehnten ihres Lebens. Es beginnt ganz leise in der Kindheit und den Teenagerjahren der Autorin. Anfangs fällt mir das Eintauchen nicht ganz leicht. Dann bekommt ihr Erzählen ziemlich schnell etwas Soghaftes. So als würde eine kleine leise Gebirgsquelle zum reißenden Strom werden, der mich haltlos bis in die Gegenwart zerrt.
Beschreibungen privater Fotos und Erinnerungen verknüpft die Autorin mit Werbespots, Liedern, politischen und kulturellen Ereignissen, mit technischen Neuerungen sowie mit Gedanken über Bücher und Filme. Das ist amüsant, das ist schmerzvoll, das ist allerhöchster Lesegenuss, denn sie hat einen ganz besonderen lakonischen Erzählton:

In den neuen Dingen lag eine Gewalt gegen den Körper und den Geist, aber sobald ihr Gebrauch zur Gewohnheit wurde, vergaß man das. Dann fühlten sie sich leicht an (Seite 210).

Die Einführung des Euro lenkte uns kurz ab. Eine Woche schaute man bei jeder Münze, wo sie herkam, dann ließ die Neugierde nach. Der Euro war eine kalte Währung, … eine irreführende Währung, die die Preise sinken ließ und einen glauben machte, in den Geschäften sei alles extrem billig, bis die Gehaltsrechnung kam und man sich arm fühlte (Seite 225).

Wie gut, dass sie weder als Studentin noch mit 30 oder 40 Jahren versucht hat, eine weise Geschichte der Menschheit oder eine Autobiographie zu schreiben. Annie Ernaux ist heute 78 Jahre alt, sie blickt zurück und tut dies mit allergrößter Gelassenheit. Ihre Sätze sind präzise, charmant und voll sprühender Intelligenz.
Um zu erfassen, wie die Ideen, Glaubenssätze und Gefühle, wie sich die Menschen und das Subjekt verändert haben (Seite 253) geht sie zurück bis ins Jahr 1941, sucht in sich selbst das Vergangene dieser Welt und entführt uns damit auf eine spannende Zeitreise. Auf dieser Reise spannt sie den Bogen vom ovalen sepiafarbenen Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Haartolle bis zu heutigen übervollen digitalen Foto-Ordnern. Von den hämmernden Klängen der Tasten einer schwarzen Olivetti bis zur leisen Tastatur eines PC. Von der öffentlichen Telefonzelle bis zum Smartphone. Und tatsächlich hat sich nicht nur die Welt um uns herum gravierend verändert, sondern mit ihr unsere Gedanken, unser Begehren, unsere Träume. Das hat mir bisher noch niemand so eindringlich erzählt, wie Annie Ernaux mit diesem Buch. Sie hat die tiefsten Winkeln meines Herzens und meiner Seele getroffen.

Und darum hier meine dringende Leseempfehlung. Wer noch ein bisschen warten möchte – bereits im Juni 2019 erscheint Die Jahre dann als Taschenbuch beim Suhrkamp Verlag.

Wie ich schließlich zu dem Buch kam? Das ist noch eine kleine Anekdote für den Schluss. Auch, weil sie zeigt, wie verrückt und gleichzeitig gut unsere schöne neue Welt auch immer wieder ist. Ich wollte nämlich lange Zeit nicht twittern, richtete mir dann doch kürzlich einen Account ein und entdeckte gleich am zweiten Tag einen Tweet meines Lieblingskollegen zu Annie Ernaux. Wir beide twittern also über Die Jahre. Ich erfahre, dass er ein großer Fan von ihr ist und am nächsten Tag bringt er mir sein Exemplar in die Buchhandlung mit, dass ich es lesen kann … Warum wir im normalen Alltag nie über Annie Ernaux gesprochen haben, verstehen wir beide nicht.

Annie Ernaux. Die Jahre. Aus dem Französischen von Sonja Finck . Suhrkamp Verlag. Berlin 2017. Bibliothek Suhrkamp 1502. 255 Seiten. 18,- €