Annette Schavan und der Plagiatsvorwurf

Von Stefan Sasse
Als der Plagiatsvorwurf gegen Schavan erhoben wurde, war meine erste Reaktion Ungläubigkeit. Sie war diejenige gewesen, die äußerst scharf gegen Guttenberg geschossen hatte. War das alles Chuzpe, ein gigantischer Bluff, der jetzt auffliegt? - Ich kenne Schavan schon aus ihrer langen Zeit als Kultusministerin hier in Baden-Württemberg und bin sicher kein Fan ihrer Politik. Aber eine Abschreiberin schien sie mir eigentlich nicht zu sein. Klar, ohne persönliche Bekanntschaft ist so etwas immer schwer zu sagen, aber es gibt Leute, bei denen man sofort glaubt, dass es der Fall ist - Guttenberg, Koch-Mehrin und Pröfrock, nur um einige zu nennen - während es bei anderen eher unglaubwürdig erscheint. Als würde man Steinmeier vorwerfen, Steuern hinterzogen zu haben. Das kann der gar nicht, das erfordert mehr Nonkonformismus, als er aufbringen kann. Das Gleiche ist es bei Schavan. 


Tatsächlich ist der Fall bei ihr wesentlich schwieriger als bei Guttenberg, Koch-Mehrin und Co. Während diese offensichtlich abgeschrieben und weite Passagen einfach per Copy+Paste übernommen haben, wird Schavan ein anderer Vorwurf gemacht: sie habe unsauber zitiert, vor allem dadurch, dass sie statt die Primärquellen zu lesen (etwa Siegmund Freud) die zentralen Gedanken einfach aus der Sekundärliteratur übernommen habe und so tat, als habe sie es gelesen. Kenntlich gemacht wurden solche Übernahmen nicht; Erbloggtes hat ein gutes Beispiel dafür aufgedröselt. In Reaktion auf die Vorwürfe hat Schavan das mittlerweile übliche Verteidigungsschema aufgefahren, um Zeit zu gewinnen: sie machte ihrerseits den Prüfern Vorwürfe (in diesem Fall die Informationen an die Presse gegeben zu haben), beklagte sich über "anonyme" Plagiatsjäger im Internet (als ob es einen Unterschied machte) und versuchte generell, die Diskussion von ihren Verfehlungen weg auf die der Gegenseite zu schieben. Dieses Vorgehen ist nicht gerade ungewöhnlich und bei politischen Angriffen üblich. Im Falle Schavan war es überaus erfolgreich, was nicht zuletzt daran lag, dass sie Schützenhilfe aus den Reihen der Wissenschaft erhielt. Dadurch ist es ihr gelungen, die Prüferkommission in Zweifel zu ziehen; es wird fast sicher eine zweite geben. Ob ihr das etwas hilft, wird sich zeigen. 


Derweil zeigt der Fall Schavan zwei wesentliche Themen im Umgang mit den Doktortiteln bei Politikern auf. Das erste Thema ist die Abneigung gegen "wertlose" Doktorentitel, also wissenschaftlich belanglose Arbeiten, die nur geschrieben wurden um den Doktortitel zu bekommen, ohne Intention, im wissenschaftlichen Betrieb zu verbleiben. Das zweite Thema sind die Standards für Doktorarbeiten, die besonders im geisteswissenschaftlichen Bereich vermehrt in der Kritik stehen - wie kann es sein, dass das Zusammenschreiben von Ergebnissen anderer als eigenständige Leistung zählt? 


Die Frage der Doktortitel geht mit dem Vorwurf einher, dass die jeweiligen Doktoranden nichts geleistet und den Titel damit nicht verdient hätten, weil sie eben nur relativ belangloses Zeug zusammenschrieben. Ob Schavans Quellensammlung über das Gewissen oder Schröders Milieustudie der CDU-Wählerschaft - beides ist nicht gerade der Stoff, aus dem neue Superwissenschaftler sind, und beide strebten das auch nie an. Schröder schrieb ihre Arbeit erst, als sie bereits in der Politik war. Die populäre Forderung ist nun, die Kriterien entsprechend zu verschärfen und damit die Zahl der Titel deutlich zu reduzieren; es wäre quasi nur noch möglich den Doktortitel zu erwerben, wenn man auch substantielle wissenschaftliche Interessen hat. Das aber ist Kokolores. In der Medizin etwa passiert das schon seit Ewigkeiten - jeder popelige Landarzt ist Dr. med., ohne dass aus dieser Flut halbseidener Doktorarbeiten wissenschaftlich brauchbare Erkenntnisse hervorkämen, und trotzdem ist weder der Titel dadurch wertlos geworden noch die medizinische Wissenschaft gefährdet. 


Gleiches gilt hier. Diejenigen, die tatsächlich im Wissenschaftsbetrieb tätig sind, sind sehr wohl in der Lage, reine Fleißaufgaben von zukünftigem wissenschaftlichen Material zu unterscheiden - sie tun es ja bereits auf der Ebene der Studentenarbeiten regelmäßig, wo herausragende Abschlussarbeiten ganz anders gewürdigt werden als die Masse der "normalen" Abschlussarbeiten. Zumindest war das an meiner Alma Mater so. Der Vorwurf, die Doktoranden hätten nichts geleistet, ist absurd. 300 Seiten wissenschaftlichen Text zu produzieren ist eine Mammutaufgabe, und jeder der einmal studiert hat weiß das. Ob das Ergebnis am Ende Mist ist ist eine andere Frage, aber gearbeitet haben die Leute dafür definitiv (Kopierkünstler à la Guttenberg, dem ich immer noch glaube, dass er nicht willentlich kopiert hat weil ich davon ausgehe, dass er einen Ghostwriter beauftragt hat, einmal beiseite gelassen). Die Bewertung des Ergebnisses liegt beim Prüfer, der zur Sicherheit noch einen Fremdprüfer zur Seite gestellt bekommt. Wenn diese Prüfer - quasi die Wissenschaftsprofis - ihre Aufgabe nicht mehr wahrnehmen, so dass ein Guttenberg damit rechnen kann, summa cum laude für seinen gequirlten Käse zu bekommen, dann liegt dort das Problem. Darüber redet aber fast niemand. Alle diese Arbeiten wurden offensichtlich nicht besonders eingehend geprüft; andernfalls fallen auch solche Dinge wie das von Erbloggtes aufgestellte Beispiel auf. 


Damit kommen wir zu den Standards. Sind die Geisteswissenschaften einfach zu soft und in einer elementaren Krise? Schließlich hören wir solche Sachen nie von Naturwissenschaftlern. Die Ursache dafür dürfte aber eher darin liegen, dass die überwältigende Mehrheit der Politiker eher Geistes- als Naturwissenschaftler ist denn in deren überlegenen Standards. Denn eines muss man sich in dieser Diskussion klarmachen - die Standards, die aktuell bei den Plagiatsfällen angelegt werden sind so hoch, dass niemand, dem der Vorwurf gemacht und der einer eingehenden Prüfung ausgesetzt wird, unbeschadet herausgehen wird. Die Kritik an den Plagiatsjägern und Prüfungskommissionen ist in diesem Punkt berechtigt. Wer in der Sekundärliteratur über ein Zitat aus einem Primärwerk stolpert und es direkt übernimmt, statt es noch einmal zu prüfen, handelt nicht zwingend vollkommen unwissenschaftlich. Wissenschaft baut auch auf dem Werk derer auf, die vorher kamen. Niemand kann, schon rein zeitlich, sämtliche Quellen noch einmal lesen und gegenprüfen. Man verlässt sich eben darauf, dass das bekannte Sekundärwerk richtig zitiert hat, so wie man sich auch in zahllosen anderen Lebensbereichen auf die richtige Vorarbeit anderer verlässt. 


Von den Vorwürfen, die bisher gegen Schavans Arbeit erhoben wurden, reicht meiner Meinung nach nichts aus, um ihr den Doktortitel abzuerkennen. Das hat nichts mit "Verjährung" zu tun, oder ihren Leistungen als Bildungspolitikerin - diese Argumente sind vollkommener Schwachsinn. Gute Handlungen waschen keine schlechten aus. Schavans Arbeit war mit Sicherheit kein großer Wurf, aber ein erschummeltes Werk mit Plagiatsabsicht ist es auch nicht. Und mir wäre auch nicht bekannt, dass die Arbeit eine ähnlich absurd gute Note bekommen hätte wie dies bei Guttenberg der Fall war. In beiden Fällen aber ist auffällig, wie blauäugig die jeweiligen Prüfer an die Sache herangingen - Guttenbergs ließ sich wohl von Auftreten und Familiennahmen blenden, à la "so jemand betrügt nich", und Schavans Prüfer entblödete sich nicht das auch noch in Worte zu fassen, indem er erklärte, dass jemand, der eine Arbeit über das Gewissen schreibe, überhaupt nicht betrügen könne. Man kann sich vorstellen, wie die Prüfungen dieser Arbeiten vorgenommen wurden. An dieser Stelle sollte angesetzt werden, und nicht die Latte künstlich so hoch gehängt, dass nur noch absolute Ausnahmetalente drüber kommen (exemplarisch ist dies übrigens gut am Fall Götz Aly zu beobachten). Dann können wir vielleicht auch wieder mit dem Doktorarbeiten-vergleichen aufhören - würden die echten Betrugsfälle bereits vom Prüfer entdeckt, wäre nicht plötzlich jeder gefährdet, der zufällig ins Visier gerät.


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