11.Tag: Thorong La – Muktinath
Der anstrengendste Teil der Tour steht bevor: die Überquerung des Thorong La. Heute müssen wir die lange Etappe bis Muktinath bewältigen. Noch vor Tagesanbruch geht es mit Stirnlampen los. Der Weg führt in Serpentinen über steiniges Gelände hinauf zu einer großen Seitenmoräne. Seit Jahrhunderten wird dieser Weg von den Einheimischen zu Fuß und zu Pferd benutzt. Es ist sehr wichtig, langsam und stetig zu gehen. Erschwerend können sich die Höhe und möglicher Schneefall auswirken. Je nach Kondition, Höhenanpassung und Wetter benötigen wir 4 – 6 Std. für die 1.000 Höhenmeter, bevor wir auf der mit Steinpyramiden und flatternden Gebetsfahnen geschmückten Passhöhe (5.416 m) stehen. Bei gutem Wetter bietet sich uns ein prachtvolles Panorama. Auf beiden Seiten des Passes thronen schneebedeckte 6.000er. Der Abstieg verläuft erst gemächlich, dann steiler bergab. Über Geröllfelder erreichen wir den Beginn des Hochtales und wandern über den begrünten Talboden nun hinab nach Muktinath (3.700 m). Etwa 1.700 Höhenmeter geht es bergab, bis wir nach ca. 3 – 4 Std. in einer Lodge im berühmten Pilgerort eintreffen.
Gehzeit: 10-12h; Aufstieg: 1000m; Abstieg: 1700m;
War das ein Tag. Eine echter Königsetappe eben. Aber wo anfangen? Vielleicht am Anfang, das hat sich doch schon oft bewährt, oder?
Bhim weckt uns heute schon kurz vor halb Vier, und trotz dieser sehr unchristlichen Zeit bin ich sofort hellwach. Gepackt habe ich wie der Rest der Gruppe schon gestern Abend, so dass ich schon 15 Minuten später zum Frühstück in den überfüllten „dining room“ komme, wo mich ein Großteil der Gruppe schon erwartet. Es gibt viel heissen Tee und zur Feier des Tages Nussschnecken. Wohl vom Vortrag aber wirklich lecker und ich esse trotz der doch unpassenden Frühstückszeit gleich Drei davon.
Gegen halb Fünf treffen wir uns vor der Lodge. Die Träger sind wohl schon losgelaufen, wir sehen sie heute den ganzen Tag nicht. Erst am Abend werden sie uns vor der Lodge in Muktinath willkommen heissen.
Jeder ist dick verpackt, es sind frostige 10 Grad Minus. Ich habe zum ersten Mal meine Stöcke eingepackt und werde sie beim langen Abstieg am Nachmittag noch zu schätzen wissen. Die Anspannung ist riesengroß, wie nervöse Rennpferde warten wir auf den Startschuss von Narayan.
Es ist noch stockfinstere Nacht, so dass wir die ersten Stunden mit Stirnlampe gehen werden. Was für ein tolles Bild: über uns ein sternenklarer Himmel, und am Berg mindestens (fast) so viele funkelnde Stirnlampen.
Wir sind einer der letzten Gruppen, die sich auf den Weg machen und beim Blick nach oben zeichnet sich der kurvige und sehr steile Weg wunderbar ab, da die Stirnlampen der Wanderer vor uns den Weg Punkt für Punkt beleuchten.
Wir gehen zu Beginn alle in einer Gruppe, Narayan vorneweg, Kumar am Ende. Da wir unsere Kräfte noch brauchen werden an diesem Tag, lässt sich Narayan für das erste Stück bis zum Thorong La High Camp sehr viel Zeit und als wir es gegen 6 Uhr erreichen, schiebt sich die Sonne schon nach und nach über die Bergkette. Ich schalte meine Stirnlampe aus und geniesse diesen ganz besonderen Sonnenaufgang,
Am High Camp legen wir eine erste Teepause ein und der „black tea“ wärmt wunderbar. Ganz zur Ruhe kommen wir aber nicht, die anstehenden Stunden, der Pass, der Höhepunkt unserer Tour, spukt in unseren Köpfen umher und treibt uns bald wieder zum Aufbruch.
Jetzt bilden sich zwei Gruppen. Das „A-Team“ mit Bhim an der Spitze, dem sich Ellen, Wolfgang, Martin und ich anschliessen. Und der grosse Rest mit Narayan als „Vorläufer“.
Volker hat leider keinen guten Tag erwischt, er hat Fieber und wird sich am Abend an fast nichts mehr erinnern. Luk nimmt ihm seinen Rucksack ab, und mit einer bewundernswerten Ausdauer und Disziplin kämpft sich Volker Schritt für Schritt über den Pass.
Mir geht es allerdings richtig gut, von Müdigkeit keine Spur. Das steilste Stück haben wir am High Camp schon bewältigt, jetzt zieht sich der Weg in langgezogenen Kurven über endlose Geröllfelder. Links und rechts leuchten die Berge wieder einmal in sonnenbeschienenem Weiss, den Himmel kann ich nur als „stahlblau“ beschreiben. Ein wunderbarer Tag denke ich, und ich bin sehr froh, dass wir nicht mit Nebel und Schnee kämpfen müssen, der am Pass um diese Jahreszeit durchaus üblich ist.
Links von uns ragt der Thorong Peak empor, und wir sehen 4 kleine schwarze Punkte, die sich über die Schneefelder kurz vor dem Gipfel kämpfen. Bergsteiger, die heute noch höher hinaus wollen wie wir.
Unterbrochen von mehreren (Tee-) Pausen nähern wir uns Meter um Meter dem höchsten Pass der Welt. Für mich ist es das erste Mal, dass ich die 5000 Meter Grenze überschreite. Ein tolles Gefühl, das mich sehr stolz macht.
Narayan hat uns am Vorabend vor „verrückten Gedanken“ gewarnt, die sich in der Höhe einstellen können. Und in der Tat, die letzten gut 200 Höhenmeter fühlen sich für mich fast wie ein Traum an.
Mir kommen Bilder von meiner Heldenreise. Das Haus meiner Helden, die Überraschung als ich dort meinen Vater und alle Ahnen antreffe. Das (Schlacht-) Feld auf dem sich mein Held und mein Dämon gegenüberstehen. Lange Zeit unversöhnlich und bereit zum Kampf, am Ende aber für alle Zeiten vereint, als ein zu Stein gewordenes Denkmal. Den Moment, als ich mich zum rhythmischen Klatschen meiner Helden, meiner Ahnen in die Tiefe, ins Licht, ins Ungewisse, ins Leben stürze.
Die Bilder geben mir viel Kraft, ich fühle mich fast schwerelos, fliege dem Pass förmlich entgegen. Getragen von meinem Helden und meinem Dämon. Mir kommen die Tränen vor Dankbarkeit, Stolz, Freude. Ich spüre eine grosse, starke Energie, die ich so sicherlich erst in den letzen Jahren in mir entdeckt habe.
Ich mache es Bhim gleich, und nehme mir einen grossen Stein, den ich nun zum Pass trage. Er fühlt sich schwer an und ich werde ihn am Pass zurücklassen. Werde mein „Schweres“ dort an einem Ehrenplatz zurücklassen.
Gegen 9 Uhr ist es dann soweit. Nach einer letzen Kurve sind wir am Ziel, dem Thorong La Pass auf 5416 Meter. Neben einer kleinen Hütte, an der wir uns mit einem Gipfel-Tee versorgen, ist der Pass mit unzähligen Gebetsfahnen und Steinpyramiden geschmückt.
Ich sehe Wanderer, die sich um den Hals fallen. Paare, die sich mit langgezogenen Küssen für die Anstrengungen der letzen Stunden und Tage belohnen. Eine spanische Gruppe singt und tanzt. Andere sitzen einfach nur still am Boden und geniessen diesen Augenblick.
Ich suche mir den richtigen Platz für den Stein, mein „Schweres“, und lass es inmitten wehender Gebetsfahnen mit Blick auf den Thorong Peak zurück. Ein Ehrenplatz, und nicht weniger hat mein „Schweres“ verdient.
Ich hänge insgesamt drei Gebetsfahnen auf. Verwebe sie in das Netz, das die anderen Gebetsfahnen aufspannen.
Die erste Gebetsfahne hänge ich für meine Familie auf. Für meinen Vater, für meine Mutter. Für meine Schwestern. Für alles „Patchwork“ drumherum. Aber auch für meine Großeltern, meine Ahnen, meine Helden. Für meinen Grossvater, den ich nie kennengelernt habe und der nie aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt ist. Und für meinen Onkel Adolf, den ich auch nie kennenlernen durfte, weil er viel zu früh an Krebs gestorben ist. Vor allem ihm fühle ich mich in diesem Augenblick verbunden, ohne dafür eine Erklärung zu brauchen.
Die zweite Gebetsfahne hänge ich für Jan und Luisa auf, denen ich von Herzen ein kraftvolles, mutiges und ehrliches Leben wünsche.
Die dritte Gebetsfahne hänge ich für mich, mein Ich, mein Wesen auf. Als Dank und Anerkennung für all die Unterstützung in den letzten Jahren. Ohne diese Kraft und Energie wäre ich jetzt nicht an diesem Ort. Wäre ich jetzt nicht der, der ich jetzt bin.
Mir gefällt die Vorstellung, dass diese drei Gebetsfahnen jetzt in so grosser Höhe wehen werden, und allen nur die besten Gebete in die Winde entsenden werden. Ich bin in diesem Moment sehr froh und dankbar, dass ich meine Familie, meine Ahnen, Jan und Luisa, mein Wesen bei mir habe.
Nach diesem für mich sehr bewegenden Moment gehe ich zu den anderen zurück und wir alle verewigen uns alleine oder in der Gruppe auf zahlreichen Bildern. Vor den Gebetsfahnen, vor dem grossen „Gipfel-Schild“, vor der traumhaften Bergkulisse.
Wir überlegen ob wir auf den Rest unserer Gruppe warten sollen, die noch nicht angekommen sind. So schön ein gemeinsames Erinnerungsfoto vom Pass wäre, wir entschieden uns letztendlich doch weiterzugehen. Der Wind bläst eisig über den Pass und ohne Windschutz wird es uns zunehmend kalt.
Mit einem letzten Blick auf die Gebetsfahnen und mein „Schweres“ verabschiede ich mich, und wir beginnen den langen Abstieg nach Muktinath.
Wir steigen über endlose Geröllfelder ab. Vorbei an beeindruckenden Steinwüsten, ehemaligen Gletschern, dem einen oder anderen dünnen Schneefeld. Das Tal öffnet sich mehr und mehr und den schneidenden (Gegen-) Wind haben wir wohl am Pass zurückgelassen.
Es ist seltsam windstill und da in dieser Höhe auch keine Vögel anzutreffen sind, umgibt mich eine Stille, die ich nur ungern mit dem Klicken meiner Stöcke durchbreche.
Jetzt merke ich die Anstrengungen der letzten Stunden und der Abstieg zieht sich endlos dahin. Doch ich bin erfüllt von den Augenblicken am Pass und nehme mir die Zeit, die ich brauche.
Am frühen Mittag treffen wir auf die ersten grünen, moosbewachsenen Hänge, auf denen wir eine ausgedehnte Pause einlegen. Wolfgang packt zu unser aller Freude seine Riesensalami aus, die er all die Tage als „eiserne Notration“ mitgetragen hat, und wir gönnen uns alle ein grosses Stück davon. Ohne Brot aber mit umso mehr Senf.
Nach zwei weiteren Stunden, in denen wir uns Schritt um Schritt wieder in tiefere Regionen bewegen, erblicken wir Muktinath, unser heutiges Etappenziel am Horizont. Das Kloster, das Muktinath zu einem wichtigen Pilgerort für Hindus und Buddhisten macht, liegt leicht erhöht über dem Ort, und die Hänge über und neben dem Kloster sind über und über mit Gebetsfahnen behangen.
Voller Stolz erreichen wir kurz vor 14 Uhr unsere Lodge. Mit 9 Stunden und 15 Minuten haben wir für die mit 10-12 Stunden veranschlagte Etappe eine tolle Leistung vollbracht und selbst Bhim scheint ein wenig müde zu sein. Die Träger begrüssen uns mit grossem Hallo und müde und zufrieden setze ich mich zu ihnen in die Sonne vor der Lodge.
Als der Rest der Gruppe gut 2 Stunden später ankommt, bin ich schon (heiß) geduscht und (fast) schon wieder bereit für neue Taten. Ich teile heute ausnahmsweise mit Eddy und Peter das Zimmer, aber nach so einer Leistung würde ich wohl auch wie die Träger, in einem Schlafsaal mit der ganzen Gruppe wunderbar schlafen und träumen.
Den Rest des Tages verbringe ich mit Wäsche waschen, lesen und einem kleinen Spaziergang durch den Ort, der neben vielen Souvenir-Ständen entlang der Hauptstrasse vor allem eine Unzahl von Webereien beherbergt, die alle wunderschöne Schals, Teppiche, Mützen und Socken zum Verkauf anbieten.
Als ich mich am Abend müde und sehr zufrieden in meinem Schlafsack lege, erlebe ich im Geiste noch einmal die Augenblicke auf dem Pass und schlafe dabei selig ein.