Wie kann eine Schwester auf dem Kaminsims leben? Was macht sie dort, wie ist sie da hingekommen?
Eine Urne mit Asche – das ist das einzige, was von Jamies Schwester Rose übrig geblieben ist. Die Bombe der Terroristen hat vor fünf Jahren nicht nur Roses Körper sondern auch die gesamte Familie zerrissen. Jamies Mutter erträgt die Trauer nicht eund verlässt die Familie. Sein Vater ertrinkt in Trauer und Alkohol. Und Jasmine, Roses Zwillingsschwester beschließt, nichts mehr zu essen. Auch ein Umzug aufs Land ändert nichts an der verkorksten Familiensituation. Der Vater trinkt, die Mutter lebt weit weg mit einem anderen Mann zusammen, Jasmine isst nicht, und Jamie bleibt auch in der neuen Schule ein Außenseiter. Und die Urne mit Roses Asche steht auf dem Kaminsims.
Dann lernt Jamie in der Schule Sunya kennen – ein muslimisches Mädchen. Wie kann er sich mit ihr anfreunden, wenn doch Muslime für den Tod seiner Schwester verantwortlich waren?
Anabel Pitcher greift in ihrem Roman viele Themen auf. Freundschaft, Familie, Liebe, Trauer, Vergebung und Schuld – um nur die wichtigsten zu nennen. Allein deshalb müsste es doch viel zu viel sein – wie packt man so viel in vergleichsweise wenig Seiten? Anabel Pitcher gelingt es, und es gelingt ihr, alle diese Themen gleichwertig zu behandeln und den Roman trotzdem nicht zu überladen. Eins greift ins andere, wie die Zahnräder einer Uhr. Alle sind gleichermaßen wichtig, damit der Roman funktioniert und berührt.
Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims hat mich sehr berührt. Besonders Jamie, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, hat mein Herz im Sturm erobert. Er ist alleine; auch wenn seine Schwester sich hin und wieder rührend um ihn kümmert, kann sie doch die Mutter nicht ersetzen. Und so lebt Jamie vom Vermissen – von der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner Mutter – von der Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Was jetzt schnell ins Kitschige und Rührselige abdriften könnte, tut es aber zum Glück nicht, sondern bleibt auf der Ebene des zehnjährigen Jungen, der nicht anders kann, als sich mit der Situation zu arrangieren, um nicht auch noch wahnsinnig zu werden. Es ist keine Der-arme-kleine-Junge-Geschichte, sondern eine Geschichte zum Mut machen. Auch wenn sie noch so traurig ist. Sie vermittelt, dass es trotz aller Trauer weiter gehen muss, und auch weiter gehen kann.
Es gibt so viel, was dieses wundervolle Buch noch vermittelt, so viel, dass ich es gar nicht alles erwähnen kann, ohne selbst einen kleinen Roman zu schreiben. Um ehrlich zu sein, will ich das auch gar nicht alles erwähnen, denn jeder von euch wird einen anderen Aspekt im Roman für den wichtigsten halten.
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten, erschienen bei Goldmann, Mai 2012. Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt, Originaltitel: My Sister lives on the Mantelpiece
ISBN: 978-3442312535