Anna Gavalda: Zusammen ist man weniger allein

Wolfgang Krisai: Blick über die Ringstraße zum Wiener Rathaus. 6. 12. 2014.Den Film hat man wohl gesehen. In Wien wird die Zahl derer, die Anna Gavaldas Bestseller „Zusammen ist man weniger allein“ auch gelesen haben, demnächst drastisch steigen, denn der Roman ist das Wiener Gratisbuch des Jahres 2014. 100.000 Exemplare wurden in der ganzen Stadt verteilt und gingen weg wie die warmen Semmeln.

Literatur-Gala

Den Startschuss zur Verteilaktion bildet jedes Jahr eine „Literatur-Gala“ im Festsaal des Wiener Rathauses. Meine Frau, fanatische Leserin französischer Gegenwartsliteratur, stieß im Internet auf ein Gewinnspiel, wo man eine Einladung zu dieser Gala gewinnen konnte – und hatte prompt Glück. So konnten wir am Montag, 24. November 2014, am Abend einen wunderbaren Literatur-Event genießen:

Der prachtvolle neugotische Festsaal des Rathauses war mit großen runden Tischen vollgestellt, auf denen Teller, Besteck und Gläser glitzerten. Anna Gavalda wurde interviewt, las den Anfang des Romans (die deutsche Fassung las eine Schauspielerin), der literaturbegeisterte Wiener Bürgermeister hielt eine Rede, dann folgte ein dreigängiges Festessen, und zum Abschluss konnte man sein druckfrisches Gratisbuch-Exemplar von der Autorin signieren lassen. Für meine Frau war das wie ein vorgezogenes Weihnachtsfest.

Das Gratis-Buch

Schon in der Straßenbahn begann ich mein signiertes Gratisbuch zu lesen und war fasziniert. Der Roman absorbierte mich beim Lesen dermaßen, dass ich bei einer U-Bahn-Fahrt ein paar Tage später praktisch nichts von einer angeheitert herumbrüllenden Touristengruppe bemerkte, die mich im Normalfall aus jeder Lektüre gerissen hätte.

Was fesselt einen an diesem Buch so sehr?

Da wären der flotte, lebendige und anschauliche Stil; die vielen “dem Volk aufs Maul geschauten” Dialoge; die kurzen Abschnitte, in die die Kapitel aufgeteilt sind. Vor allem aber die vier Persönlichkeiten, um die es sich dreht, allesamt furchtbar einsame Menschen:

Camille Fauque, geb. 1970: glücklose Künstlerin, die das Malen aufgegeben hat und stattdessen nachts als Putzfrau arbeitet, um sich über die Runden zu bringen. Sie ist dünn wie ein Strich, wohnt in einem winzigen „Chambre de bonne“ im siebten Stock und ist am Ende ihrer Kräfte.

Philibert de la Durbellière, genannt Philou, geb. 1967: schüchterner Spross einer Adelsfamilie, der für einige Monate eine riesige Pariser Wohnung im selben Haus bewohnen darf, den Hauptschauplatz des Buches. Vollendete Manieren eines Grafen des 19. Jahrhunderts. Menschenscheu bis ins Pathologische.

Franck Lestafier, geb. 1977: hervorragender Koch eines Nobelrestaurants, privat aber ein angeberischer Prolo mit Motorrad. Trotzdem ein Mann mit Herz. Wohnt bei Philibert in Untermiete.

Paulette Lestafier, geb. viel, viel früher: uralte, gebrechliche Großmutter Francks, die ihn einst aufgezogen hat und der er sich nun verpflichtet fühlt, da sonst niemand für sie sorgt.

Am Anfang war ein Sturz

Paulette stürzt zu Beginn, im Jahr 2003, in ihrem Haus und verletzt sich schwer. Eine Nachbarin entdeckt sie und rettet sie. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus stellt sich bald heraus, dass Paulette nicht mehr allein zurechtkommt. Schweren Herzen steckt Franck sie daher in ein Altenheim, wo sie aber jede Gesellschaft verweigert. Franck muss sie daher jeden Montag besuchen und glüht dafür auf seiner Maschine von Paris in die Gegend von Tours.

Parallel dazu lernt Philibert bei einer Begegnung am Haustor Camille kennen, es entwickelt sich ein vorsichtiger Kontakt, der in einem gemeinsamen “Picknick” in Camilles Zimmerchen gipfelt.

Wir lernen Camilles Arbeitskolleginnen genauer kennen, eine bunt zusammengewürfelte Putztruppe. Auch Francks Arbeitsplatz lernt man kennen, und es ist nicht uninteressant, in die Arbeitsbedingungen von Putzfrauen und Köchen Einblick zu bekommen. Man hat jedenfalls den Eindruck, dass Anna Gavalda gut recherchiert hat und lebensnah berichtet. Nur Philiberts Arbeit als Ansichtskartenverkäufer in einem Museum bleibt recht blass.

Etwa bei der Hälfte des Romans erkrankt Camille an einer heftigen Grippe, Philibert bekommt das irgendwie mit, klopft bei ihr an, dringt ein und holt die schon fast Unansprechbare in ein leerstehendes Zimmer seiner Wohnung. Franck ist über die neue Mitbewohnerin anfangs gar nicht begeistert, doch auch er leistet seine kleinen kulinarischen Beiträge, um Camille wieder auf die Beine zu bringen. Auch nach ihrer Genesung bleibt sie in Philiberts Wohnung.

Eine Generationen übergreifende WG

Es dauert wieder Monate, bis Camille von Franck zu Paulette ins Altersheim mitgenommen wird. Und wieder einige Zeit, bis sich in Camille ein Plan entwickelt: Sie will ihren Putz-Job aufgeben und stattdessen Paulette als Pflegerin betreuen, die deshalb in die Pariser Wohnung ziehen soll. Philibert und Franck sind skeptisch, stimmen einem Versuch aber zu. Gemeinsam holen sie Paulette ab. Nun sind alle vier Einsamen zusammen, daher weniger allein. Ganz leicht ist es nicht, wenn vier so verschiedene Menschen zusammenleben sollen, in einer Generationen übergreifenden WG. Aber dank Camilles Fähigkeit, Wogen zu glätten, geht es gut. Ja, Franck, der vorher wöchentlich eine andere vernascht hat, verliebt sich sogar in Camille und will von seichten Abenteuern nichts mehr wissen.

Dass diese Idylle nicht ewig dauern kann, ist klar. Anna Gavalda bringt einen akzeptablen Schluss zustande: Philibert heiratet, Franck geht nach England, Paulette stirbt an Altersschwäche und Camille, die schon längst wieder zu zeichnen und zu malen begonnen hat, erbt Paulettes Haus und zieht dorthin als freischaffende Künstlerin, begeistert unterstützt von einem Galeristenehepaar.

Tolles Buch. Bin schon auf das Gratisbuch des Jahres 2015 gespannt…

Anna Gavalda: Zusammen ist man weniger allein. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Echomedia Buchverlag, Wien 2014. 552 Seiten + 20 Seiten Interview mit der Autorin. Deutsche Erstausgabe: 2005. Französisches Original: „Ensemble, c’est tout“, 2004.

Bild: Wolfgang Krisai: Blick über die Ringstraße zum Wiener Rathaus. 6. 12. 2014. – Am 6. Dezember pilgerten Scharen von Besuchern zum Christkindlmarkt vor dem Rathaus, dem größten Christkindlmarkt von ganz Wien.

Das ist die Farbe des heurigen Gratisbuchs.

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