Angst vor der letzten Seite...

Von Mila
Es war ja nicht so, als hätte ich die letzte Seite nicht kommen sehen - ich wollte sie nur nicht wahrhaben. Ach Lyra, Lyra, wir werden uns wohl nie wiedersehen. Das Leben mit Büchern ist ungerecht.
Es gibt Bücher, die haben 300 Seiten, eine riesige Schrift, tarnen sich erst als "Schnell-mal-zwischendurch-Literatur" und wollen. dann. einfach. nicht. enden. Diese Bücher schaffen es in der Regel, mich nachhaltig zu frustrieren und wenn sie nicht gerade mit einer Challenge zusammenhängen, komme ich dann nicht mal über die ersten 100 Seiten hinaus. (So passiert zum Beispiel hier und hier).
Und dann gibt es Bücher mit tausend Seiten und mehr, gefühlte zwei Kilo schwer, die Schrift kaum noch lesbar... und trotzdem ist die letzte Seite viel zu schnell erreicht!
So ein  Buch ist "His Dark Materials" (auf Deutsch die "Goldene Kompass"-Trilogie), von Philip Pullman. Zwei komplette Wochenenden und unzählige Abendstunden habe ich in der Welt von Lyra Silvertongue verbracht. So viel Zeit habe ich schon lange nicht mehr in ein Buch gesteckt. (Konzentrierte Lese-Zeit, wohlgemerkt, nicht diese "Mist, schon wieder nicht aufgepasst, ich muss die letzten zwei Seiten nochmal lesen"-Zeit, die mir zum Beispiel The Magic Faraway Tree ständig beschert hat.) Nachdem einigen Anlaufschwierigkeiten im ersten Teil konnte ich es plötzlich nicht mehr aus der Hand legen. Und dann? War es zu Ende. Der Albtraum jeden Buchliebhabers. 
Zur Story:
Die Trilogie besteht aus drei Büchern und ist eigentlich bei weitem zu komplex, um sie in einer kurzen Zusammenfassung zu beschreiben und vor allem ohne zu spoilern. Ich werde es daher hier sehr oberflächlich halten. His Dark Materials besteht aus:
  1. Northern Lights (Der goldene Kompass, 1995)
  2. The Subtle Knife (Das magische Messer, 1997)
  3. The Amber Spyglass (Das Bernstein-Teleskop, 2000)
Lyra Belaqua, später Lyra Silvertongue, wächst in einer Parralelwelt auf, die der unseren zwar sehr ähnlich ist, die aber von einer sehr strengen kirchlichen Institution überwacht wird. In ihrer Welt hat jeder Mensch einen "Dæmon", der so etwas ist, wie in unserer Welt die Seele, der aber in Lyras Welt die Form eines Tieres hat und den Menschen immer begleitet. Aufgezogen wurde Lyra im Jordan College (in unserer Welt die Oxford Universität), da sie keine Eltern mehr hat. So geschieht es, dass Lyra zwar über keine vernünftige Schulbildung verfügt, jedoch viele Dinge erfährt, die weit über ihr Alter hinausgehen. So kommt sie zum Beispiel mit der Forschung nach "kosmischem Staub" in Berührung, vor dem die Kirche große Angst zu haben scheint, den Lyra aber sehr spannend findet. Im weiteren Verlauf der Geschichte bereist sie, um mehr darüber herauszufinden wie dieser "Dust" auf den Menschen wirkt, erst ihre Welt, dann unsere und schließlich mehrere Parrallelwelten.
Auf dieser Reise lernt sie viele neue Freunde kennen, darunter fantastische Wesen wie Panzerbären, Hexen und Engel, sie macht sich aber auch eine Menge Feinde, allen voran die Kirche, die mit allen Mitteln versucht, Lyra von ihren Forschungen abzuhalten. Als Vertreterin der Kirche fungiert die überaus charmante Mrs. Coulter, die Lyra zunächst außerordentlich bewundert, der sie aber schnell, nicht zuletzt aufgrund von Mrs. Coulters heimtückischem Affen-Dæmon, zu misstrauen beginnt. Gleichzeitig verschwinden überall um Lyra herum Kinder, auch ihr bester Freund Roger wird gefangen. Und ein böses Gerücht macht die Runde - die Kinder werden für Experimente missbraucht, bei denen sie von ihrem Dæmon getrennt werden.

Der Trailer zum Film gibt eine ganz gute Übersicht zum ersten Buch, von dem aber die letzten Szenen wohl weggelassen wurden, um sie im zweiten Film einzufügen. Mit der Finanzkrise wurde dann aber die Produktion stillgelegt und die Folgeteile wurden nie produziert. (Zumindest ist das die offizielle Begründung, meiner Meinung nach kommt der Film an das Buch einfach nicht mal ansatzweise heran und ist deshalb gefloppt.)
Meine Meinung:
Von der 2007er Verfilmung "Der goldene Kompass" ist mir außer den sprechenden Bären und einer auf 20er Jahre gestylten Nicole Kidman mit ihrem bösen Affen irgendwie nicht viel Erinnerung geblieben. Deswegen hatte ich auch nicht viel vom Buch erwartet und habe mich auf eine eher kindliche Geschichte à la Narnia eingestellt. Und da sich der Film nah am Buch orientiert - ohne allerdings auch nur annähernd dessen atmosphärische Dichte einfangen zu können - hatte ich einige Schwierigkeiten mit dem ersten Buch warm zu werden. 
Lyra war für mich am Anfang ein schwer einschätzbarer Charakter, der sich eben wie ein normales Kind verhält, mit der Ausnahme, dass sie ein bisschen viel lügt. Nach und nach wird aber klar, dass Lyra nicht nur pfiffig, sondern auch verdammt mutig ist und ein sehr, sehr großes Herz hat. Von ihr lebt die Geschichte, von ihrem Mut und ihrem Durchhaltevermögen, auch wenn sie zwischendurch fast unter der Last zusammenbricht, Lyra geht immer weiter. Und dem Leser unter die Haut.
"Oh, Pan, dear, I can't go on! I'm so frightened - and so tired - all this way, and I'm scared to death! I wish it was someone else instead of me, I do honestly!"

Die Geschichte verliert ihre Ähnlichkeit mit Narnia schon auf den ersten Seiten und ich würde auch sagen, dass sie generell schnell aufhört, ein Kinderbuch zu sein. Denn obwohl sprechende Bären vorkommen und die Hauptrolle von einem Kind gespielt wird, sind die Themen mit denen sich das Buch beschäftigt derart vielschichtig, dass ich ernsthaft bezweifle, als Kind hier die Übersicht behalten zu haben. Dass es aber als Kinderbuch angelegt ist, glaube ich schon, da viele Konflikte dann doch sehr simpel gelöst werden, zum Beispiel die Szene mit dem König der Panzerbären. Tatsächlich hat Pullman die Trilogie übrigens sogar bewusst als Gegensatz zu den Chroniken von Narnia und deren sehr gottesorientierter Haltung verfasst. Auch dieses Buch hat einen sehr religiösen Grundton,  ist aber das genaue Gegenteil zu Narnia, indem es sich definitiv gegen die Kirche und später deutlich auch gegen Gott persönlich richtet. Die Bücher wurden daher von der katholischen Kirche scharf kritisiert und zum Start des Films rief sie sogar zu einem Boykott auf.
Generell ist die Geschichte aber eher darauf ausgelegt, Autoritäten jeder Richtung zu misstrauen und immer wieder nachzufragen, was ja nie schaden kann. Die Figuren, gerade die der "Autoritäten" sind sehr komplex, genauso wie ihre Beziehungen zueinander und am spannendsten wird es immer dann, wenn die wunderschöne jedoch eiskalt berechnende Mrs. Coulter auftaucht. Pullmans Figuren sind selten vollkommen gut oder vollkommen schlecht, aber Mrs. Coulter vereint das abgrundtief Böse auf eine derart schmerzliche Weise mit dem Guten, dass es mir immer wieder den Magen umgedreht hat.

Die Bücher werden, was selten passiert, mit jeder Fortsetzung besser. Wo sich der Autor im ersten Buch wohl erst noch einfinden musste, grenzt der dritte Band an Genialität. Pullman sprüht vor Fantasie und beginnt ab dem zweiten Teil Szenen einzuflechten, die mich vor lauter gespannter Nervösität nach und nach alle Fingernägel der linken Hand gekostet haben. (Mit der Rechten musste ich dankenswerterweise das Buch umblättern.) Und so ab Seite 1000 habe ich begonnen, Angst vor dem Ende zu bekommen. Denn ich wollte einfach nicht, dass die Geschichte aufhört. Doch aufhören tut sie und zwar mit einem Knall. Dieses Ende hätte ich als Jugendliche mit Sicherheit gehasst wie die Pest, heute fand ich es dagegen ziemlich genial abgerundet und sehr zum Autor passend. 
"His Dark Materials" behandelt so viele wichtige und erwähnenswerte Themen - Mut, Freundschaft, Liebe, Leidenschaft, Manipulation, Verführung, Wissensdurst, Neugier, Unterdrückung, Autorität, Kirche, Religion, Atheismus, Forschung, Tod... - und der Autor erschafft so viele grandiose Metaphern und neue Blickpunkte auf uralte Themen, dass es Wert wäre, sie alle zu besprechen. Da hab ich aber weder Zeit noch Platz zu, also bleibt mir nur, dieses Buch aus vollem Herzen jedem zu empfehlen, der nicht gerade mit dem Gedanken spielt, ins Kloster einzutreten. Dann ist es eventuell nicht die beste Idee.
Fazit:
Nach einem langsamen und etwas anstrengend kindlichen Einstieg wird die Geschichte sehr schnell zu einem rasanten, komplexen Meisterwerk. Gegen Ende ziehen sich einige Szenen ein bisschen mehr als notwendig in die Länge, aber nie so, dass man das Buch einfach aus der Hand legen könnte. Denn eine Flut von großartigen Ideen, erstaunlichen Metaphern, erinnerungswürdigen Charakteren und mitreißenden Handlungssträngen macht es dem Leser schwer, aus der Geschichte so schnell wieder aufzutauchen. Die dichte Atmosphäre des Buches hat mich irgendwann überallhin begleitet, ob zum Sport oder beim Kochen, ich war im Kopf immer bei Lyra und Will. Absolute Empfehlung!