Angekommen!

Von Momstagebuch
Wir fuhren die ganze Nacht. Ich fuhr die komplette Strecke alleine und wollte mich von meiner Schwägerin nicht ablösen lassen. Ich war eine leidenschaftliche Autofahrerin, die sehr gerne lange Strecken fuhr. Das änderte sich auch nicht, nur weil ich hochschwanger war.
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Wieder entschied ich mich für die Brenner-Autobahn, wenngleich mir die vielen kilometerlangen Viadukte und hohen Brücken, die man überqueren musste, richtig Angst machten. Ich leide schon von Kindheit an unter Höhenangst und konnte noch nie Brücken überqueren, ohne dass mir schwindelig und/oder schlecht wurde und immer noch wird..
In dem Transporter saß man höher als in einem normalen PKW. So hatte ich eine ungestörte Sicht über die Brüstung der Brücken weit hinunter in das Tal, das wir gerade überquerten.  Ich erinnere mich, dass ich jedesmal am Anfang eines Viadkukts das Lenkrad mit meinen Händen wie einen Schraubstock umklammerte und krampfhaft meinen Blick auf den Mittelstreifen konzentrierte, damit ich nur ja nicht nach unten schaute.
Als wir die Alpen so gut wie hinter uns hatten, atmete ich erleichtert auf und fuhr nun entspannter weiter Richtung Cremona. Ich glaube, es waren ungefähr 8 Stunden Fahrzeit, denn wir kamen so gegen 7 Uhr morgens an. Die nächste Herausforderung wartete auf mich. Wie um alles in der Welt sollte ich den überlangen Transporter in der kleinen Via Robolotti geparkt bekommen??? Tatsächlich fand ich auf Anhieb einen Parkplatz, der groß genug schien - direkt vor Italo's Auto. Meine Schwägerin stieg aus und wollte mich einwinken. Es war wohl meiner Müdigkeit zuzuschreiben, dass ich trotz ihres engagierten Winkens schaftte, ausgerechnet Italo's Auto zu rammen!! Na Super! Das fing ja schon gut an! Gott sei Dank war es jeweils nur eine leichte Schramme, die beide Autos davontrugen. Trotzdem war das ärgerlich. Italo nahm das Malheur humorvoll, jedoch nicht ohne ein: "war ja klar - Frau am Steuer!" zu brummeln.
Er und seine Schwester trugen die Umzugskartons und die Möbel nach oben. Unser Bett war 1,60m breit und passte gerade so ins kleine Schlafzimmer. Biancas Bettchen jedoch konnten wir beim besten Willen nicht aufstellen, dazu war der Platz einfach zu knapp. Die Umzugskartons stapelten wir in der Küche an einer freien Wand fast bis hoch unter die Decke. Man konnte sich kaum mehr rühren, so voll gestellt war die kleine Wohnung nun. Und trotzdem war ich glücklich. Immer noch glaubte ich an das Wunder, das wir brauchten, damit unsere gemeinsame Geschichte ein gutes Ende nehmen würde.
Wir verbrachten mit Italo's Schwester einen schönen Tag in Cremona und am nächsten Tag fuhr sie mit dem gemieteten Transporter wieder zurück nach Deutschland.
Wir waren allein. Italo, Bianca, das ungeborene Baby und ich. Unser gemeinsames Leben in Italien begann.
Anfangs war noch alles aufregend und neu. Ich konnte noch kaum italienisch. Wenn ich zum Einkaufen ging, dann schrieb mir Italo immer einen Einkaufszettel. Den zeigte ich dann den Verkäuferinnen und die waren sehr hilfsbereit und unterstützten mich beim Auswählen der Produkte. Schnell lernte ich die wichtigsten Vokabeln, die man beim Einkaufen benötigte und in kurzer Zeit war ich in der Lage, diese Aufgabe ganz alleine zu bewältigen.
Sehr gerne ging ich auf den Wochenmarkt in der Nähe des Cremoneser Domes. Die Gerüche, die Geräusche, das italienische Flair, das die lautstark gestikulierenden, handelnden Menschen verbreiteten, das war für mich etwas ganz Besonderes. Die Auswahl war einfach fantastisch und die Qualität der dort angebotenen Produkte 1A. Die Italiener legen sehr viel wert auf qualitativ gute Lebensmittel. Lieber spart man an der Renovierung der alten Fassaden der Häuser, aber am Essen wird niemals gespart. Das ist ein ungeschriebenes italienisches Gesetz.
Nicoletta nahm mich das erste Mal mit auf den Markt. Sie erklärte mir, dass sie "cozze" kaufen wollte. Fassungslos starrte ich sie an. Das konnte doch nicht sein,  da hab ich bestimmt was falsch verstanden, dachte ich und fragte sie erneut, was sie kaufen wollte. Wieder die gleiche Antwort: Cozze! Ich versuchte ihr zu erklären, was diesesWort mit "K" und "tz" geschrieben, aber identisch ausgesprochen, in deutsch bedeutete. Sie konnte es kaum glauben. Diesmal schaute sie mich derart ungläubig an und schüttelte den Kopf. "Non è vero! Stai scerzando!" sagte sie immer wieder. "Das ist nicht wahr! Du machst Scherze!" Zielstrebig steuerte sie auf den nächsten Fischstand zu und zeigte auf die Miesmuscheln, die da auf gestoßenem Eis auslagen. "Ecco! Queste sono le cozze!" was soviel bedeutete: wie: "Da! Schau! Das sind ...Miesmuscheln!"
Es gab noch einige solcher lustigen Missverständnisse. Einmal wollte sie "un osso per un buon brodo" kaufen, einen großen Suppenknochen für eine kräftige Fleischbrühe. Ich verstand aber "orso", und das bedeutet Bär. Ich staunte also nicht schlecht, dass Italiener ihre Fleischbrühe aus Bären kochten.
Italo verdiente ganz gut. Eigentlich waren wir ja Millionäre, denn sein monatlicher Nettoverdienst lag bei ungefähr 1.400.000 Lire (etwa 750 EUR), für die damaligen Verhältnisse ein wirklich gutes Gehalt in Italien. Zum Vergleich: ein normaler Angestellter erreichte gerade mal so die Million, ein Verkäufer bekam um die 800.000 Lire im Monat.
Entsprechend inflationär erschienen mir die Preise und ich musste mich erst dran gewöhnen, dass ich für einen Wocheneinkauf gut und gerne zwischen 80.000 und 100.000 Lire ausgab.
Die Geburt unseres zweiten Kindes sollte in ungefähr 8 Wochen sein. Es war mir wichtig, eine ärztliche Untersuchung zu machen. Nicoletta empfahl mir einen Gynäkologen, der nur Privatpatienten behandelte, die Kosten in Höhe von 60.000 Lire für die Untersuchung mussten wir also selbst tragen. 
Dottore Lupi war ein sympathischer Mann, schätzungsweise Anfang 50. Seine Praxis war modern eingerichtet und er verfügte über ein Ultraschallgerät. Er untersuchte mich und schaute auch mit dem Ultraschallgerät nach dem Baby. Es war alles in Ordnung und ich wollte unbedingt wissen, welches Geschlecht unser Baby haben würde und er meinte:"E una femina!" Es ist ein Mädchen! Mir war das recht, es wäre schön gewesen, einen Jungen zu bekommen, dann hätten wir ein Pärchen gehabt. Aber ein zweites Mädchen wäre bei mir genauso willkommen gewesen. Von Italo wusste ich allerdings, dass er sich einen Jungen wünschte. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als ich ihm sagte, dass wir laut dem Arzt wieder ein Mädchen bekommen würden.
Erst jetzt kam ich dazu, mich mehr auf meine Schwangerschaft zu konzentrieren. Auch dieses Mal war ich wieder so gerne schwanger. Dass ich dieses Wunder des in mir wachsenden Lebens nochmals erfahren durfte machte mich sehr glücklich. Etwas mulmig war mir schon zumute, wenn ich dran dachte, dass ich in ein paar Wochen entbinden würde und  nicht mal verstehen konnte, was die Ärzte oder Hebammen zu mir sagen würden. Aber auch dieses Mal vertraute ich darauf, dass ich automatisch alles richtig machen würde.
Italo hatte immer noch keine Wohnung gefunden. Die Aussichten, dass wir noch rechtzeitig in eine größere Wohnung ziehen würden, waren mehr als schlecht.
So suchte ich für Bianca einen Kindergartenplatz ganz in der Nähe der Via Robolotti. 2 Straßen weiter gab es eine Art Kloster, in dem Nonnen wohnten. Diese betrieben einen für Italien typischen Ganztageskindergarten. Die Kinder gingen morgens hin, aßen dort zu Mittag, hielten ihr Mittagsschläfchen und wurden gegen 17 Uhr von den Eltern wieder abgeholt.
Von der Straße her sah man nur eine haushohe und meterlange Mauer, die nur durch ein großes, schweres,massives 2-flügeliges Holztor durchbrochen wurde. Wenn man das Tor passierte, stand man plötzlich in einem wunderschön begrünten, riesengroßen Innenhof. Es gab dort alles, was ein Kinderherz begehrte: einen großen Sandkasten, Schaukeln, Rutschen, Spielhäuschen. Sogar ein kleines Karussell stand da. Am gegenüberliegenden Ende des Hofes war das Kloster und die Räumlichkeiten des Kindergartens. Es gab einen großen Speisesaal, mehrere Spielzimmer, einen riesigen Schlafsaal und natürlich kindgerechte sanitäre Anlagen. Dei Einrichtung war nicht mehr ganz neu, dafür aber blitzblank. Und in jedem Raum hing unübersehbar ein Kruzifix.
Die Schwestern selbst waren mit einer dunkelgrauen Kutte bekleidet. Auf dem Kopf trugen sie eine ebenfalls dunkelgraue Nonnenhaube, die Haare und Hals komplett bedeckte.Die Schultern und den Brustkorb zierte eine Art halbrunder Latz, der schneeweiß war. Es gab 3 Kindergruppen à ca. 20 Kinder im Alter von  3-6 Jahren und in jeder Gruppe waren 3 Nonnen, die sich um die Kinder bemühten.
Etwas befremdlich war das alles schon für mich. Dieser Klosterkindergarten war anders als die deutschen Kindergärten. Und doch fühlten Bianca und ich mich gleich wohl dort. Die Schwestern waren auch sehr, sehr nett. Eigentlich nahmen sie keine Kinder unter 3 Jahren auf. Bianca wurde  im Januar 3 Jahre alt und wir hatten erst Anfang November. Doch bei Bianca machten sie eine Ausnahme. Sie durfte bereits am nächsten Tag den Kindergarten besuchen. Ich musste noch schnell  2 rosa Grembiulini besorgen. Das sind die in Italien obligatorischen Schürzchen, die die Kinder tragen müssen. Sie sind vergleichbar mit einer Schuluniform.
Dann war der große Tag da und Bianca ging zum ersten Mal in ihrem Leben in den Kindergarten. Sie war sehr aufgeregt und es fiel mir wesentlich schwerer, sie alleine dort zu lassen als ihr selbst. Sie verstand kein Wort von dem was die Nonnen oder die Kinder zu ihr sagten, aber es war in Ordnung für sie und sie ging wirklich gerne dahin. Die ersten Tage versuchten mir die Nonnen zu erklären, dass Bianca zwar noch nicht verstand, was man von ihr wollte, aber wenn man ihr vormachte, was sie tun sollte, z.B. die Hände vor dem Essen waschen, dann tat sie es auch. In diesen Tagen sprach Bianca kein Wort. Weder mit den Kindern noch mit den Nonnen. Trotzdem hatte sie Anschluss und wurde von den anderen Kindern akzeptiert und mit einbezogen.
Es war etwas mehr als eine Woche vergangen, da kam mir eine Nonne ganz aufgeregt entgegen, als ich Bianca abholen wollte.
"Signora, Signora! Kommen Sie schnell!" sagte sie, natürlich auf italienisch. "Ihre Tochter spricht endlich! Sie spricht zwar deutsch, aber sie spricht!" erklärte sie mir freudestrahlend.
Leise gingen wir zum Sandkasten, in dem Bianca mit anderen Kindern gemeinsam spielte. Unbemerkt konnte ich beobachten, wie sie tatsächlich mit den anderen Kindern sprach. Aber es war nicht in deutsch. Es war auch nicht italienisch, sonst hätten die anderen es ja verstanden. Es war irgendein unverständlicher Kauderwelsch, der unverkennbar die Melodie  und Intonation der italienischen Sprache beinhaltete. Es war ihre eigene Fantasiesprache, die keiner außer ihr selbst verstand. Und es war der erste Schritt in die richtige Richtung. Von diesem Moment an begann Bianca italienisch zu lernen, jeden Tag ein bißchen mehr. Es dauerte nicht lange, da hatte sie mich und meine italienischen Sprachkenntnisse überholt.
Meine Tochter war in Italien angekommen :-)