„Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je.“
Vielleicht kann man sich das heute gar nicht mehr richtig vorstellen. Eine Liebe, die über nahezu sechs Jahrzehnte andauert. Zwei Menschen, die auch im Alter von über achtzig Jahren zusammenhalten, sich gegenseitig unterstützen, bei denen die Flamme der Verliebtheit nie erlosch in schönen, aber durchaus auch in sehr schwierigen Zeiten.
Von solch einer Liebe erzählt das Buch Brief an D. des austro-französischen Intellektuellen und Sozialphilosophen André Gorz. Die Liebe zwischen ihm und Dorine war eine Liebe, die wirklich bis zum Letzten ging. Vor zehn Jahren, am 22. September 2007, nahmen André Gorz und seine schwerkranke Frau Dorine sich gemeinsam das Leben.
Von jemandem zu erfahren, dass er freiwillig und von eigener Hand aus dem Leben geschieden ist, wirkt in den allermeisten Fällen bedrückend und macht einen traurig. Wie verzweifelt schließlich muss ein Mensch sein, dass er keine Hoffnung mehr hat, sich nicht mehr vorstellen kann, dass es einmal besser werden kann und für den als einziger Ausweg der eigene Tod bleibt. War dieser Mensch depressiv, stellt sich erst gar nicht die Frage nach dem Warum, denn dann war es die Krankheit, die ihn auf dem Gewissen hat. Eine Tatsache, die auch heute noch nur die wenigsten verstehen. Anders war es, vom gemeinsamen Freitod des Ehepaar Gorz zu lesen. So traurig es ist, wenn ein Mensch diese Welt verlässt, der bewusst gewählte Tod des Paares war für mich eine schöne Vorstellung. Die beiden konnten auf ein bewegtes und langes Leben zurückblicken. Dass ihnen nicht mehr allzu viel Zeit auf Erden bleiben würde, war ihnen sicherlich ohnehin klar. Zudem war Dorine schwer erkrankt. Vielleicht würde der Rest ihres Lebens Leiden bedeuten und ihr Ehemann würde als unglücklicher Witwer zurückbleiben. So traten sie diese letzte Reise zu zweit an und keiner ließ den anderen allein zurück. Eine letzte zutiefst romantische Handlung.
„Nachts sehe ich manchmal die Gestalt eines Mannes, der in einer öden Landschaft hinter einem Leichenwagen hergeht. Dieser Mann bin ich. Und Du bist es, die der Leichenwagen wegbringt. Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche bekommen.“
Brief an D. beschreibt die Geschichte des Paares seit ihrem Kennenlernen. Er, in Wien geborener Sohn eines Juden und einer Katholikin, verbrachte die Weltkriegsjahre in der Schweiz, wo er auf seine spätere Frau trifft. Zusammen gehen sie nach Paris. André arbeitet mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir zusammen und schreibt theoretische Abhandlungen. Sein zentrales Thema ist die Arbeit. Seine Frau unterstützt ihn dabei nahezu bedingungslos. Auch in Zeiten der Armut bestärkt sie ihn: „Dein Leben ist das Schreiben. Also schreib.“ Und das tat er. Bis zuletzt.
Brief an D.
Geschichte einer Liebe
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Rotpunktverlag, Zürich
8. Auflage 2017
EUR 18,-