Pro Jahr führe ich rund 50-70 Interviews, jedes etwa anderthalb Stunden lang. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie lang anderthalb Stunden sein können? Mein Gegenüber sitzt, wartet auf Fragen, beantwortet diese kürzestmöglich, wartet wieder… Oder er redet. Und redet und redet und redet. Was er/die sagt? Nichts! Roger Willemsen hat das, was dabei in meinem Kopf entsteht, in einen schönen Satz gefasst: „Die schlimmsten Menschen sind die, die keine Fragen provozieren.“ Ich würde es gern noch ergänzen: „… und die, die mich bereits nach fünf Minuten auf die Uhr schauen lassen.“
Nun habe ich für jedes Interview Standardfragen im Kopf – zur Sicherheit. Und ehrlich gesagt, wenn ich diese Fragen hervorholen muss, notiere die Antworten bereits in den Block oder ins Notebook bevor ich sie höre, vielleicht sogar, bevor sie im Kopf meines Gesprächspartners entstehen. In diesen Fällen könnte ich, ehrlich gesagt, ganz ohne Interviews auskommen, könnte das, was ich in den letzten zehn Jahren zu mehreren Hundert Porträts verarbeitet habe, auch aus mir selbst heraus schreiben. Habe ich zum Teil auch trotz mühsam geführter Interview getan, weil meine Phantasie bunter ist, als die derer, die mich zu zuhörenden Misshandlungsopfern gemacht haben.
Und dann, unverhofft, begegne ich ihr oder ihm: interessante Geschichte, aufgeschlossen für die etwas anderen Fragen, nachdenkend, gegenfragend, offen auch für kritische Themen, rede- und zuhörgewandt… Ich bin plötzlich wieder wach, aufmerksam, konzentriert. Oft vergesse ich mitzuschreiben, weil das Gespräch für sich steht – und stehen bleiben kann. Dann habe ich ihn wieder gefunden, den Grund, den ich immer wieder brauche, um mich zu motivieren, Menschen zu interviewen, die sicher nicht weniger zu sagen hätten.