von Michael Schmidt-Salomon
(hpd) Viele Jahre hat Nourig Apfeld über die Ermordung ihrer Schwester geschwiegen. Nun hat sie ihre Lebensgeschichte publiziert. Ein aufwühlendes, mutiges Buch, das man gelesen haben sollte.
Nourig Apfeld wurde 1972 in Syrien geboren, 1979 kam sie nach Deutschland, 1993 wurde sie Zeugin des Ehrenmordes an ihrer jüngeren Schwester. Mehr als ein Jahrzehnt versuchte sie, die schreckliche Tat zu verdrängen, bis sie sich einer Therapeutin anvertraute. 2007 sagte sie im Prozess gegen ihre Familie aus, wohlwissend, dass sie sich damit in akute Lebensgefahr brachte. 2008 wurde ihr Vater zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.
Was sich hinter diesen dürren Eckdaten verbirgt, enthüllt Nourig Apfeld in ihrer Autobiographie „Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester“ in schonungsloser Offenheit. Das Buch, für das Günter Wallraff ein Vorwort beisteuerte, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zunächst einmal ist es eine bittere Anklage – nicht nur gegenüber den menschenverachtenden, patriarchalen Normen, die das Denken und Handeln allzu vieler Muslime bestimmen, sondern auch gegenüber der zynischen Gleichgültigkeit bzw. dem offenen Rassismus, dem Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland noch immer ausgesetzt sind.
Doch Nourig Apfeld klagt nicht nur an, sie klärt auch auf: Am Beispiel ihres Vaters verdeutlicht sie, dass wir es uns viel zu einfach machen, wenn wir in „Ehrenmördern“ nichts weiter als „Monster“ sehen, denen jedes Mitgefühl abhandengekommen ist. Sie mögen sich nach Außen vielleicht rühmen, die „Familienehre“ verteidigt zu haben, doch tief im Inneren tragen auch sie in der Regel schwer an der Last ihrer Taten. Manch einer zerbricht daran – wie Nourigs Vater, der nach der Ermordung seiner einst so geliebten Tochter nie wieder derselbe war. Es ist vielleicht der wichtigste aufklärerische Aspekt dieses Buches, dass es uns dafür sensibilisiert, dass die Täter bei genauerer Betrachtung auch bloß Opfer sind – Gefangene einer unmenschlichen Tradition, die sie darauf programmiert, Verbrechen zu begehen, die sie unter anderen kulturellen Einflussfaktoren niemals begangen hätten.
Kultureller Relativismus tötet
Natürlich darf ein Verständnis der kulturellen Hintergründe niemals zu einer Relativierung oder gar zu einer Legitimation der Taten führen. Hier liegt der politisch brisante Aspekt des Buchs. Denn „Ehrenmorde“ könnten sehr wohl verhindert werden, wenn die öffentlichen Institutionen bereit wären, die Grundwerte einer offenen, demokratischen Gesellschaft entschiedener zu verteidigen – und das heißt nicht zuletzt: die Freiheitsrechte von Migrantenkindern gegen die weltanschaulich bornierten Interessen ihrer Ursprungsfamilien durchzusetzen. Nourig Apfelds Schwester könnte heute noch leben, wenn die zuständige Sachbearbeiterin des Jugendamts sich geweigert hätte, körperliche Gewalt und Freiheitsberaubung als legitime Erziehungsmittel innerhalb einer muslimischen Familie zu akzeptieren. Doch sie tat, was so viele tun: Sie opferte die Idee der universellen Menschenrechte auf dem Altar der postmodernen Beliebigkeit. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass kultureller Relativismus tötet, Apfelds einfühlsame und hochreflektierte „Anatomie eines Ehrenmords“ liefert ihn in eindrucksvoller Weise.
Ich kann nur hoffen, dass dieses mutige, aufwühlende, in vielerlei Hinsicht erhellende Buch weite Verbreitung findet. Es sollte Pflichtlektüre sein für jeden, der sich mit Fragen der Integration beschäftigt, insbesondere für Politiker, Juristen, Sozialarbeiter und Lehrer, die so oft nicht wissen, was sie tun, wenn sie Migrantenkinder achselzuckend ihrem Schicksal überlassen.
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(Quelle: hpd)