Anarchismus oder Der beste aller möglichen Staaten

Was ist denn aus Ihnen geworden, Mensch?, fragte mich der Kerl. Ich wusste nicht, was er meint, aber er war schnell, legte gleich nach, ohne auf Antwort oder Gegenfrage meinerseits zu warten. Früher haben Sie immer mal geschrieben, Sie seien Anarchist. Und nun sprechen Sie so oft vom Staat. Er hat mich ertappt, dachte ich mir. Ich wollte mich fast aus meiner Lethargie bewegen und antworten, da monologisierte der Kerl weiter drauflos, was mir wiederum zupass kam. Jetzt schafft der Neoliberalismus mal Konzepte, in denen der Staat endlich in Rückzug geraten soll und Sie wirken nicht mit. Mir verging es gleich komplett, ich hatte keine Lust mehr, ihm zu antworten. Ich gebe auch zu, dass er es nicht ganz so sagte, Neoliberalismus verwendete er in seinem Satz überhaupt nicht. Neoliberale sagen nie Neoliberalismus. Sie gehören offenbar einem Geheimorden an, der so geheim ist, dass er nicht mal genannt werden darf. Konfrontiert man sie mit dem Begriff, dem Konzept, mit seinen Unsitten, dann leugnen sie lautstark seine Existenz.

Noch eine Weile hörte ich ihm zu, das heißt, ich tat so, gab einige klägliche Antworten von mir, die ich heute nicht mehr weiß und verschwand. Arschloch, dachte ich mir. War er auch, mal abgesehen davon. Tut aber nichts zur Sache. Anarchismus heißt doch nicht Freiheit vom Staat, überlegte ich dann, sondern Freiheit von Herrschaft. Kann doch ich nichts dafür, das beides irgendwie immer zusammenfällt.
Für mich schließt es sich nicht aus, den Sozial- und Rechtsstaat sichern zu wollen, weiterhin aber an den Idealen des Anarchismus festzuhalten. Für einen Kerl wie jenem ist das natürlich zu hoch, er braucht so klare Kanten, wie sein Gesicht welche hatte. Sowohl als auch ist für ihn keine Option, seine widerlich anschmeichelnde Art verriet mir das gleich. Es ist ja nicht so, dass der Anarchismus ein Chaos ohne aufgestellte Regeln wäre, auch wenn es sich die Mehrheit so phantasiert. Man lese mal Horst Stowasser, der das in seinem überwältigenden Buch beschrieb. Auch im Anarchismus gibt es Regeln. Alles Zusammenleben ist stets Regelwerk. Immer und überall und egal wie man es nennen mag. Unbeherrscht nach Regeln leben - was nicht heißt, sich unbeherrscht aufzuführen, sondern besonnen nach dem, was die Gesellschaft als Kodex entworfen hat. Die Neoliberalen praktizieren das genau ja nicht, ihre Freiheit von staatlicher Herrschaft ist eine unbeherrschte, rücksichtslose, jähzornige und wutschnaubende. Sie sind zu den Herrschern geworden und wollen immer noch mehr Herrschaft - sie sind herrschsüchtig. Und genau das ist und will das anarchistische Ideal vermieden wissen.
Wenn man einsieht, dass es Regeln geben muss, die möglichst vernünftig, also kein ius positivum sind, dann kann man auch einsehen, dass es Institutionen gibt, die auf Einhaltung getrimmt sind. Und die Einsicht, dass es Regeln braucht, ist unter Anarchisten nicht verwerflich. Wer etwas anderes behauptet, hat den Anarchismus nie begriffen. Man nenne dann die Institution der Regelüberwachung meinethalben Staat. Es geht mir auch nicht um die Verteidigung des Staates, wie er in der westlichen Welt heute zu finden ist. In ihm ist aber die Keimzelle dessen, was werden könnte und werden sollte. Anarchismus sollte man als Ideal verstehen, das man nicht aufgibt, nicht verrät. Welcher Christ ist schon wie Jesus? Dennoch bewahrt sich die Christenheit diesen idealisiert guten Juden als Leitbild. Wir glauben doch alle an was - und wenn wir wissen, dass unsere geglaubten Ideale nicht praktikabel sind, dann versiegeln wir sie in uns und halten sie dennoch fest. Würden wir sie loslassen, gerieten wir zu Nihilisten.
Und die Neoliberalen sind genau solche Nihilisten. Sie glauben an nichts, nur an Profite; der Weg zum Profit ist gepflastert mit dem Nichts, denn nichts ist ihnen heilig, nur das Ziel ist der Weg. Braucht man Mord dazu, toleriert man den Mord und nennt ihn Sachzwang; geht es mit Geschenken, schenkt man; ist Aushungern nötig, hungern sie eben aus - winkt bei reichlicher Verpflegung mehr Gewinn, verpflegen sie einen mit einer Fürsorge, dass man vor Ergriffenheit weinen möchte. Dass die Mittel immer mit dem Zweck vereinbar sein müssen, schrieb Stowasser übrigens auch, sei ebenfalls anarchistisches Ideal. Mit Bomben Befriedung zu schaffen sei unsinnig und nicht vertretbar, ganz zu schweigen davon, dass man so keinen Frieden macht, sondern nur Verstümmelungen. Neoliberale sind da nicht wählerisch, sie sind sicherlich pragmatischer als solche, die sich Ideale eingemeißelt haben. Mehr aber auch schon nicht.
Anarchisten haben immer, und tun dies heute noch, die geistige Veränderung der Menschheit postuliert. Die einen meinten, der Anarchismus sei praktikabel, wenn die Menschheit endlich eine neue geistige Entwicklungsstufe erklommen habe, die anderen glaubten: Erst der Anarchismus, dann der menschliche Fortschritt. Zweifelsohne bedarf es einer materiellen Basis. Da ist er sich mit Marx einig. Vor dem Sozialismus kommt der Kapitalismus und die industrielle Massenfertigung. Erst das Fressen, dann die Moral. Die Frage wird jedoch sein, ob wir nicht zu evolutionsgläubig sind. Ist der geistige Fortschritt im Sinne eines Weltethos überhaupt programmiert? Woher nimmt man die Zuversicht, dass der Mensch als Menschheit denken lernt? Scheitert daran der Anarchismus? So wie jedes System wird er das. Der Anarchismus scheitert am ihm immanenten Guten, daran dass er gutgläubig ist - der Neoliberalismus wird daran scheitern, nur an das Schlechte zu appellieren. Am Menschen scheitert es immer, weil er ist, was er ist.
Ich ringe nach einen Sinnspruch, den man unterstreichen könnte, wenn man ein Lineal hätte. Ist nicht einfach, weil vermutlich eh jeder glaubt, dass ich von der reinen Lehre abgefallen bin. Auch so ein Unsinn, denn der Anarchismus sollte ja eigentlich ein unideologisches Fach sein.
Also, Sinnspruch, ein Versuch dazu jedenfalls: Der Anarchist ist heute jemand, der eingesehen hat, dass der beste aller möglichen Staaten besser ist, als das Schwelgen in staatslosen Idealen, die momentan (oder immer?) nicht machbar sind.
Konkretisierung: Die besten aller möglichen Staaten sind nicht die, die wir haben im Westen oder sonstwo. 
Ergänzung zum Sinnspruch: Der Anarchist ist das, was ich oben schrieb und zusätzlich weiß er, dass für eine Verbesserung immer wieder gestritten werden kann, auch wenn es schon Verbesserungen gab.
Konkretisierung II: Der Anarchist braucht keine Staatenlosigkeit, sondern kann mit einem Staat leben, der Freiheiten garantiert und ermöglicht und die Ausübung von Herrschaft relativ erschwert und kontrolliert.
Sinnspruch, Ergänzung zweiter Teil: Der Anarchist ist das, was oben steht plus Ergänzung und er legt zwar Wert auf Sozial- und Rechtsstaatlichkeit und auf Einhaltung von Menschenrechten und Verfassung, aber Staatsbekenntnisse und nationale Selbstbeweihräucherungen lehnt er ab. Er ist verfassungspatriotisch.
Konkretisierung III: Er hat eine entspannte Beziehung zur Staatlichkeit. Er sieht sie als Garantin eines friedlichen Miteinanders, was nicht heißt, dass es vielleicht auch anders gehen könnte, wenn der Mensch anders wäre.
Es fällt nicht leicht, einen Sinnspruch zu schleifen, der wie eine mathematische Formel angewendet werden kann. Wie hätte ich dem Typen denn das erklären sollen? Reden ist eh nicht meine Liga. Das Beste von einem Autor steht auf dem Papier. Der Rest ist meistens Nonsens, schrieb mal ein kluger Alkoholiker.
Dieser mich einsülzende Pisser mit seiner jovialen Art, mich dem Neoliberalismus anzunähern, wird damit nichts anfangen können. Kann ich ja selbst kaum. Trotzdem geht das für mich zusammen. Anarchistisch zu denken und gleichzeitig dafür zu sein, dass der Staat als Mittler notwendig ist, das ist nicht paradox, das ist konsequent. Nicht der Sozialstaat, der heute abgebaut wird, auch nicht der Rechtsstaat, der heute weniger mit Recht, viel aber mit den Rechten zu tun hat - so wie sie sind, will ich sie ja nicht; sie sollen besser werden, gerechter, die Menschen partizipieren lassen, Übervorteilung einzelner Egomanen einschränken. Auch wenn es den Staat heute nicht mehr gäbe, müsste man sich auf Regeln verständigen, um den Zustand, in dem die Gesellschaft leben will, zu definieren. Der Begriff Staat ist nicht zufälligerweise dem lateinischen Begriff für Zustand, status nämlich, entlehnt. Irgendeinen Zustand gibt es immer. Irgendeinem Absolut muss man sich immer beugen - und wenn es ein Absolutes ist, das vernünftig und anständig ist, sollte das nicht weiter verwerflich sein.
Staatenlosigkeit können sich Menschen leisten, die auf einen starken Spieler, der ihre Interessen durchboxt, nicht benötigen. Auf dieser Ebene wirkt der Neoliberalismus. Der Anarchismus kann nicht in dieselbe Kerbe schlagen.

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