Anarchie ist machbar – Herr Nachbar

Anarchie ist machbar – Herr Nachbar

Horst Stowasser - www.lunisolar-fotodesign.de


Unser Planet ist chronisch krank. Litten er und seine Bewohner bis ins 19. Jahrhundert noch an den Folgen feudaler und kolonialer Herrschaft, so trat mit dem Beginn der Industrialisierung eine neue, gefährlichere Bedrohung auf den Plan. Der Kapitalismus. Ein System, das als oberste Prämisse nur eines anerkennt, exponentielles Wachstum.

Seither produzieren alle wie die Teufel um einem immer brutaleren Konkurrenzdruck Stand halten zu können und verwandeln dabei unsere Erde in eine radioaktive und giftige Schutthalde. Der Kapitalismus vernichtet nicht nur alles Lebens- und Liebenswerte, vielmehr verschlingt er in seiner unersättlichen Gier – sich selbst. Jemand der Auswege aus diesem Teufelkreislauf erforschte, war Horst Stowasser, dessen Tod sich dieser Tage jährt. Dem Gedenken an diesen unorthodoxen literarischen Pionier ist dieser Text gewidmet.

Horst Stowasser hat Anarchie stets als das begriffen und beschrieben, was sie ist. Der Begriff stammt aus dem griechischen. Dort bedeutet das Wort an archia [αν αρχια] wörtlich übersetzt „keine Herrschaft.“ Dies bedeutet keineswegs, dass Anarchie das Tor ist zu einer Welt voller Chaos und Gewalt. Eine solche haben wir bereits. Unser derzeitiges Herrschaftssystem, bestehend aus Geld und Lobbyismus, Militär und Geheimdiensten, Polizei und Justiz, regiert von korrumpierten Parlamentariern, abzulehnen, bedeutet nicht, Gewalt und Gesetzlosigkeit zu befürworten. Der Mensch an sich ist gut und vernunftbegabt, diesen Vertrauensvorschuss war Stowasser seinen Mitmenschen einzuräumen bereit. Auf dieser Annahme basiert zudem ein großer Teil seiner Theorie, für die er den Praxisbeweis mit seinem Projekt „Werk Selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen“ (WESPE) erfolgreich angetreten hatte. Darin hatte er bewiesen, dass ein Betrieb ohne jegliche Hierarchie, ohne Chef und Vorarbeiter, dennoch ausgezeichnete, konkurrenzfähige Leistungen und Ergebnisse zustande bringen kann. Und alle haben Spaß dabei.

Mir tut jeder leid, der nicht mit zwanzig Anarchist war.
- Clemenceau –

In einem seiner Werke mit dem Titel „Freiheit Pur“ stellt Stowasser die These auf, dass sicherlich mehr Menschen Anarchisten sind, als jene, die sich so nennen. Sie wissen es nur nicht. Aber sie vereinen auf sich die klassischen Merkmale eines jeden Anarchisten. Sie lassen sich ungern etwas von Menschen vorschreiben, die sie für inkompetent halte, sie fragen kritisch nach und machen sich ihre eigenen Gedanken die durchaus zu einem anderen Ergebnis kommen können, als die der Vorgesetzten. Autorität durch Kompetenz anzuerkennen sind Anarchisten gerne bereit, nicht jedoch Autorität durch Unterwerfung. Dennoch, da ist Stowasser sich sicher, müssen auch in einer anarchisch strukturierten Gesellschaft gewisse Regeln gelten, die eingehalten werden müssen. Diese Regeln müssen jedoch den Gesetzen der Vernunft zugunsten aller Beteiligten entspringen und dürfen nicht der Festigung von Herrschaft, Unterdrückung und Gewinnzuwachs einiger weniger dienen.

Eines der Hauptargumente aller Anarchiegegner ist der vermutete Anstieg der Kriminalität, sollte die Idee der Anarchie sich jemals durchsetzen. Was konservativen Denkern beim Gedanken daran den Angstschweiß auf die Stirne treibt, ist geprägt von der Vorstellung marodierender Horden, die plündernd und brandschatzend durch die Lande ziehen und eine breite Spur aus Chaos und Verwüstung hinter sich herziehen. Dabei verweisen sie triumphierend auf Geschehnisse wie die unlängst ausgebrochenen sozialen Unruhen in England. Anarchisten widerum gehen von der Annahme aus, das die häufigste Ursache von Verbrechen soziale Ungleichheit- und Ungerechtigkeit ist. Die Zahl psychisch abnormer Täter ist, einmal abgesehen von der NATO, eher gering. Natürlich wird es auch in einer Anarchie Kriminalität geben. Dem anarchistischen Gedanken folgend, sollte den Tätern jedoch eher Hilfe statt Strafe zuteil werden. Zudem sollte, anstatt ständig nur Fehlverhalten zu sanktionieren, rechtschaffenes Verhalten belohnt und nicht nur als Soll- Vorgabe vorausgesetzt werden. Unter solchen Bedingungen, so die Schlussfolgerung Stowassers, würde Kriminalität faktisch aussterben und mir ihr auch Kriege, Völkermord, Sklaverei und Kolonialisierung. In einer freien Gesellschaft mit freien Menschen, die frei denken, fühlen und handeln, sind Soldaten nicht länger vonnöten.

in memoriam Horst Stowasser – 07.01.1951 bis 30.08.2009

Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.

  • Kurt Tucholsky

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