Analyse der Europawahl

Die Europawahl ist vorüber. Wie erwartet haben die Rechtsextremen und Rechtspopulisten stark zugelegt, während die alteingesessenen Parteien - besonders Konservative und Liberale - verloren haben. Doch lohnt es sich, das Ergebnis näher anzusehen. Es hat interessante Konsequenzen, nicht nur für die jeweiligen Landespolitiken, sondern auch für die EU als Ganzes. Beginnen wir unseren Überblick mit Deutschland. Die AfD hat den Einzug ins Europaparlament (ab jetzt EP) erwartungsgemäß mit über 5% geschafft, hat aber gemessen an den vorherigen Umfragen eher underperformed - eine Wiederholung der Bundestagswahl, wo diverse Prognosen die AfD ebenfalls um ein oder zwei Prozent stärker gesehen haben, als sie am Ende war. Ihr Sieg dürfte für Deutschland die größten Konsequenzen haben. Er ging vor allem auf das Konto von FDP, die mit 3% ihre Bedeutungslosigkeit anzementiert bekam und der CDU/CSU, die deutlich, wenngleich nicht drastisch, gegenüber 2009 verlor. Die SPD selbst sieht sich mit einem Zugewinn von 2% gegenüber der Bundestagswahl im Aufwärtstrend, was sich aber angesichts des Einsatzes von mehr als doppelt so viel Wahlkampfmitteln wie bei der Union eher bescheiden ausnimmt. Darauf kommt es für die SPD aber auch nicht wirklich an; sie muss einen sich selbst tragenden Aufschwung in Stimmung und Umfragen starten, und je erfolgreicher man sich redet, umso besser. Rein innenpolitisch haben sich für Deutschland zwei Dinge gezeigt: erstens, der harte Schwenk hin zum Rechtspopulismus in den letzten Wochen ("keine Sozialunion") hat sich weder für CDU noch für CSU ausgezahlt. Wer dieser Meinung war, konnte mit der AfD gleich das Original wählen und hat es getan. Das ist eine gute Neuigkeit.
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 Gleichzeitig bedeutet der Erfolg der AfD und noch mehr die Katastrophe für die FDP, dass Merkel jenseits der SPD derzeit keine Koalitionspartner besitzt. Für die CDU muss daher die Bündnisfähigkeit mit den Grünen oberste Priorität bekommen, wenn sie sich nicht an die SPD als Koalitionspartner fesseln will, die gleichzeitig auf grüner und linker Seite Koalitionsspielraum gewinnt. Seit diesem Sonntag läuft die Zeit erstmals seit langem wieder für die Genossen, wenngleich auch sehr, sehr langsam. Das deutsche Wahlergebnis hat aber natürlich auch in Europa Strahlkraft. Es zeigt für den Rest der EU zweierlei Dinge: erstens, Deutschland steht in überwältigender Mehrheit fest zur EU und dem Euro, so dass sich an den Leitlinien deutscher Politik in absehbarer Zeit nichts ändern wird, zum Guten wie zum Schlechten. Aus Deutschland ist innerhalb der EU kein Chaos zu erwarten; es dürfte als stabilisierender Anker wirken - eine Nachricht, die für die Griechen und Spanier eher als Drohung erscheinen dürfte. Gleichzeitig wird sich aus Deutschland aber auch kein Impuls für eine Reform der EU ergeben - dafür war Schulz' Niederlage zu deutlich und ist Merkels politischer Kurs zu klar expertimentavers. In Frankreich dagegen haben die Rechtspopulisten unter Marie Le Pen einen klaren Sieg errungen. Ihre Stimmen gingen im Gegensatz zur deutschen AfD wesentlich weniger auf das Konto der Konservativen und Liberalen als vielmehr der regierenden Sozialisten. Die Wahl dort ist als doppelte Protestwahl zu lesen: gegen die ungeheuer unpopuläre Regierung Hollandes und gegen den aktuellen Kurs der EU. Hollande hatte bei seiner Wahl einen wirtschaftspolitischen Umschwung anstoßen wollen. Dieser ist mittlerweile von Merkel komplett abgefangen und zerbröselt worden; Frankreich ist mehr oder minder vollständig auf den deutschen Stabilitätskurs eingeschwenkt und hat sich von seinen Zielen einer Wachstums-Union verabschiedet. Die deutlich spürbare deutsche Dominanz in der EU sorgt für Abwehrreaktionen in Frankreich. In Großbritannien findet sich ein ähnlich gelagertes Phänomen: auch hier ist die Wahl der UKIP, die stärkste Partei vor Labour und Tories wurde, sowohl ein Misstrauensvotum gegen die EU (die in Großbritannien noch nie sonderliche Popularität genoss) als auch gegen die heimischen Eliten, denen Verrat des eigenen Landes und Kapitulation gegenüber mächtigen, klandestinen und intransparenten Interessen vorgeworfen wird. Deutschland ist hierbei gar nicht so sehr das Feindbild; die EU wird vielmehr als Ganzes abgelehnt. Angesichts des Wahlergebnisses dürfte Camerons Zug, 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU anzusetzen, als schlechte Idee gelten dürfen. Für die britische Regierung muss es in den nächsten drei Jahren darum gehen, möglichst substanzielle Konzessionen von der EU zu erzwingen, um so den heimischen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ob die EU, die den Briten ohnehin bereits Sonderrechte eingeräumt hat, sich die Verantwortung für das innenpolitische Debakel der Tories aufladen will, darf allerdings bezweifelt werden. In Italien hat die regierende Sozialisten-Partei Partito Democratico einen deutlichen Wahlsieg errungen. Zwar konnten die rechtsradikalen Kräfte knapp den Einzug ins Parlament schaffen, aber Berlusconis Forza Italia erreichte nur den dritten Platz. Die Proteststimmen wurden in Italien von Beppo Grillos "Bewegung 5 Sterne" (M5S) aufgesogen, das zwar auch nicht besonders EU-freundlich ist, in seiner Kritik aber mehr Elemente des Links- als des Rechtspopulismus bedient und daher für eine Allianz der rechten EU-Gegner ausfallen dürfte. In Spanien haben die etablierten Konservativen (die aktuell die Regierung stellen) trotz heftiger Verluste eine knappe Mehrheit behalten können und garantieren so eine weitere Umsetzung des Euro-Rettungskurses im eigenen Land. Beachtenswert ist hier auch, dass die Sozialisten, die seit 2011 nicht mehr an der Regierung sind, ebenfalls schwere Verluste erlitten haben - das Gedächtnis des Wählers ist in Spanien offensichtlich lang. Auch in Polen siegten die regierenden Liberalkonservativen. Fast gleichauf allerdings liegen die Nationalkonservativen; die restlichen Parteien sind weit abgeschlagen. Angesichts dieser Gefahrenlage dürfte Regierungschef Donald Tusk sich genausowenig für die EU aus dem Fenster lehnen wie Cameron in London. In Österreich zeigt sich ein im Trend ähnliches Ergebnis wie in Deutschland: die Konservativen siegen trotz Verlusten, die Sozialdemokraten legen leicht, aber vernachlässigbar zu, die Liberalen sind abgeschlagen. Deutlich prononcierter allerdings sind die Wahlerfolge der österreichischen Grünen (knapp 14%) und, natürlich, der rechtsradikalen FPÖ. Diese ist mit über 20% drittstärkste Kraft aus Österreich und knüpft damit an vergangene Zeiten an. Ein EU-Boykott steht dieses Mal aber wohl nicht im Raum. In Skandinavien gleichen sich die Wahlergebnisse frappant: die rechten Parteien haben besser abgeschnitten, als die Demoskopen es ihnen zutrauten, mit Ausnahme Dänemarks aber bleiben sie weit hinter den etablierten Regierunsparteien zurück. Dänemark war, wie Großbritannien, noch nie ein großer EU-Unterstützer. Doch auch die anderen skandinavischen Länder ziehen sich mehr und mehr aus der EU zurück, wie es scheint. Besonders in Finnland scheint der rechte Diskurs langsam konsensfähig zu werden. In Griechenland wurden die Sozialisten praktisch völlig vaporisiert. Die konservative Neo Dimokratia wurde nur zweitstärkste Kraft, deutlich vor den Neonazis der "Goldenen Morgenröte", die auf knapp 10 Prozent kam. Wahlsieger sind, anders als noch bei den letzten griechischen Parlamentswahlen, die Syriza-Sammlungspartei der linken Strömungen. Es scheint, als ob in Griechenland langsam jegliche Basis für die Eurorettungspolitik wegbricht. Sollte sich die Entwicklung fortsetzen und Syriza an Stimmen gewinnen, stehen die Konservativen zwischen Linkspopulisten und Neonazis. In einer solche Situation beträte die Neo Dimokratia sicher kein Neuland, wenn sie mit den Neonazis paktierte. Gute Nachrichten gibt es aus den Niederlanden, einem der Stammländer des Rechtspopulismus, wo Geert Wilders Verluste hinnehmen musste. Stattdessen gewannen die Europa-freundlichen Kräfte. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Zypern, Slowenien, Rumänien und Bulgarien. Die regierenden etablierten Parteien liegen deutlich vor den jeweiligen nationalen Kräften, was möglicherweise mit der Frische des EU-Beitritts und einer weitgehenden Unberührtheit von der Euro-Krise zusammenhängt (sieht man einmal von Zypern ab). Anders sieht das Bild in Belgien aus, wo die nationalistischen Kräfte deutlich gewonnen haben und die Spaltung des Landes weiter vorantreiben. Es wird abzuwarten bleiben, ob hier nicht noch in näherer Zukunft mitten in Europa eine ernsthafte Staatskrise ausbrechen wird. Generell zeigt das Wahlergebnis den erwarteten Verlust der etablierten europäischen Parteien, die gegenüber dem rechten Lager verlieren. Aus der Perspektive der USA übrigens gilt dieses Ergebnis als Protest gegen die Austeritätspolitik, die jenseits des Atlantiks ohnehin als bescheuert wahrgenommen wird. So einfach ist es allerdings nicht; wie oben ausführlich für das Beispiel Großbritannien und Frankreich beschrieben, spielen auch innenpolitische Erwägungen in vielen Fällen eine entscheidende Rolle. Zudem sind die rund 130 Sitze der Rechten keine annähernd so große Gefahr, wie sie in den einfarbigen Balkendiagrammen der Berichterstattung aussehen: viele der radikalen Rechten eint dasselbe Problem, das auch die Linken haben. Sie wissen sehr gut, wogegen sie sind, aber nicht besonders gut, wofür. Ein einiger rechter Anti-EU-Block ist daher unwahrscheinlich. Die Formation neuer europäischer rechtspopulistischer Fraktionen ist praktisch ausgeschlossen. Die dänische Volkspartei mag die Front National nicht, Orbans Fidez kann die UKIP nicht leiden und so weiter und so fort. Interessant bleibt damit nur noch die Frage nach dem Kommissionspräsidenten. Die Sache war eigentlich klar: wer auch immer von EVP und SPE die stärkere Fraktion würde, dessen Kandidat würde gewählt. Nun liegt Schulz mit seinen 186 Stimmen deutlich hinter der EVP mit ihren 212. Der Lage der Dinge nach müssten sich beide europäischen Großparteien nun für Juncker einsetzen. Etwas überraschend aber gibt Schulz nun den Schröder und verkündet, dass die EVP keine eigene Mehrheit hat (was die SPE natürlich ebenfalls nicht hat, nicht einmal mit Grünen und Liberalen). Es bleibt daher etwas unklar, wie es weitergehen soll. Dies wird dadurch verstärkt, dass der Präsident der Kommission ja von den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen werden muss. Zwar hat sich Merkel verhalten hinter Juncker gestellt, aber in Cameron und Orban sind zwei gewichtige konservative Staatschefs bereits gegen Juncker an die Öffentlichkeit gegangen, was für den Europäischen Rat genau der Anlass sein könnte, sich den demokratisch legitimierten Personalvorschlägen zu entziehen. Sollte das passieren, wäre es denkbar, dass das Parlament den Vorschlag der Kommission schlicht nicht abnickt. Es würde eine handfeste Verfassungskrise auf EU-Niveau folgen. Diese will zumindest von den meisten Ländern wohl keine der Regierungen herbeibeschwören, besonders angesichts der rechtspopulistischen Attacke, der sie zuhause ausgesetzt sind. Ich gehe daher eher davon aus, dass Schulz' Aufplustereien den Zweck haben, den Preis für seinen eigenen zukünftigen Posten hochzutreiben. Er könnte etwa Deutschlands Kommissar werden und Günther Oettinger ersetzen, oder er könnte an die Spitze des Ministerrates rücken - es gibt viele Möglichkeiten. So oder so - die nächste Zeit bleibt spannend.

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