Wenn mehrere Gruppen von Menschen auf engem Raum zusammenleben, stellt sich unweigerlich ein Abgrenzungsverhalten ein. Besonders stark ist dieses Verhalten bei Gruppierungen mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen. Der Nahost-Konflikt ist da nur ein extremes Beispiel von vielen. Die Oper Frankfurt hat nun ein Werk in Auftrag gegeben, das eine relevante, künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema sein will. Am 31. Mai erlebte die Oper An unserem Fluss des israelischen Komponisten Lior Navok ihre Uraufführung im Bockenheimer Depot. Ist das politisches Musiktheater?
Big Uncle is buying you
Ort der Handlung ist ein unbestimmter Ort, der für zwei unterschiedliche Glaubensgemeinschaften Zuflucht und eine bessere Zukunft verspricht. Auf der Suche nach Wasser begegnen sich Lucia und Sipho. Die beiden Jugendlichen entdecken nicht nur eine sprudelnde Quelle, sondern leider auch, dass sie den verfeindeten Sippen angehören. Wem gehört nun die lebenswichtige Ressource, die sie gemeinsam entdeckt haben? Die beiden trennen sich im Streit. Lucia murmelt im Weggehen aber noch „Wiedersehen?", was den Beginn einer Liebesgeschichte bedeutet. Währenddessen verteidigen die beiden Völker ihre Grenzen mit Waffengewalt. Die Situation eskaliert, auf beiden Seiten sterben Menschen. Dann tritt auch noch der sogenannte Big Uncle auf, der Repräsentant einer unbekannten Macht, die beide Seiten mit Hilfszuwendungen versorgt. Sipho und Lucia beobachten diesen doppelten Betrug und beschließen, für eine friedvolle Zukunft zu kämpfen.
Nicht nur in Nahost
So. Und jetzt? Die Oper An unserem Fluss von Lior Navok bietet weder neue Informationen, noch eine originelle Perspektive auf Situation und Hintergründe von zwischenmenschlichen Konflikten. Und leider kann auch von einer gelungenen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema oder einer bereichernden Verschränkung einer aktuellen politischen Frage mit dem klassischen Romeo und Julia-Stoff keine Rede sein. Das Libretto strotzt von Allgemeinplätzen ("Wir kaufen die öffentliche Meinung, wie immer", „Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen") und bis ins Letzte ausformulierten Haltungsdarstellungen ("Wir kämpfen für Gerechtigkeit! Wir bekennen uns zum Frieden!" von beiden Anführern gleichzeitig gerufen, "Wir helfen doch! Wir beliefern beide Seiten gleich" ). Keine schlechte Idee ist, die Namen der Figuren so zu wählen, dass kein eindeutiger Kulturraum zuzuordnen ist. Der Komponist wünscht sich nämlich laut Libretto auch, dass in keinen Fall ein nahöstlicher Hintergrund im Bühnen- oder Kostümbild offensichtlich wird. So wirkt Lucia italienisch, Allendorf deutsch, Bucksmann englisch und Rutget klingonisch. Unbeholfen wirkt dieses Prinzip aber bei Namen wie Chicken-Heart, Right-Hand und dem größten Holzhammer des Abends: Big Uncle. Die Anspielung auf die allgegenwärtige und rettungslos manipulative Macht aus dem Roman 1984 von George Orwell tut nicht nur weh, sie ist auch nur bedingt sinnig, da es in Navoks Stück nicht um eine kontrollierende Instanz geht, sondern in erster Linie um eine korrupte, reiche, geldgierige dritte Partei. Zum Glück erspart uns die Regie von Corinna Tetzel die von Lior Navok vorgeschlagene äußerliche Darstellung der zwei Big Uncles mit Schweinemasken oder bösartigem Smiley-Grinsen in Mafioso-Nadelstreifenanzügen... (!!!)
Baum, Wand, Fluss
Das Bühnenbild von Stephanie Rauch für die Uraufführungsinszenierung im Bockenheimer Depot ist eine krude Mischung aus Naturalismus und Minimalismus. Zu Beginn des Abends treten, schlagen und stoßen alle Beteiligten des Abends gegen einen großen grauen Felsen im Hintergrund, der den gesamten restlichen Abend unbespielt und bedeutungslos bleibt. Von diesem Felsen führt ein zunächst trockenes mit Geröll und Schotter versehenes Flussbett in Richtung Orchester. Auf den beiden schlichten Flächen, die dieser Graben trennt, stehen Wände mit Tür- und Fensteröffnungen in schwarz, grau und weiß, die keine Räume schließen oder öffnen.
Eigentlich gar kein schlechtes Symbol für die Schutzlosigkeit und das Ausgeliefertsein - wäre da nicht auch noch eine Bodenklappe, durch die man in einen sicheren Bunker gelangt.
Der Fund des Wassers wurde von Regisseurin Corinna Tetzel ganz wörtlich genommen. Sipho und Lucia bewegen gleichzeitig zwei gegenüberliegende Hebel im Boden woraufhin ein Rinnsal des kühlen Nasses sich auf das Orchester zubewegt. Eine Handlung, die genau so als Regieanweisung des Komponisten im Libretto notiert ist. Es bleibt das Gefühl, dass eine Ausdeutung des Wassers in irgendeiner Form dem Abend mehr Haltung hätte geben können.
Weg hier!
Das größte Fragezeichen an diesem Abend ist der Schluss. Die Synopsis im Programmheft verspricht, dass mindestens Lucia für eine bessere und friedliche Zukunft kämpfen will. Die Realität der Inszenierung von Corinna Tetzel sieht anders aus. Nicht nur Lucia und Sipho fliehen in ein nicht definiertes Irgendwo, auch alle anderen Figuren - außer den beiden Anführern, die an ihrer eigenen Engstirnigkeit und Intoleranz zugrunde gehen - treten einfach ab, am Zuschauerpodest vorbei, vielleicht durch den Haupteingang des Frankfurter Depots, raus an die frische Luft, ab in die Welt, wo sie dann... was genau tun? Welche Schlüsse kann der Zuschauer aus diesem Verhalten ziehen? Dass die einzig mögliche Lösung des Konflikts darin besteht, sich ihm zu entziehen?
Kritik auf Deutschlandfunk vom 1. Juni 2015 Kritik der Frankfurter Rundschau vom 1. Juni 2015 Kritik des Wiesbadener Kurier vom 2. Juni 2015 An unserem Fluss. Oper von Lior Navok (UA 2015 Frankfurt)Oper Frankfurt (Bockenheimer Depot)
Musikalische Leitung: Sebastian Zierer
Regie: Corinna Tetzel
Bühne: Stephanie Rauch
Kostüme: Judith Adam
Dramaturgie: Deborah Einspieler
Besuchte Vorstellung: 1. Juni 2015