An meinen toten Sohn

Mein lieber Sohn,

heute durfte ich dich in Händen halten. Vier Monate früher als von deiner Mami und mir erhofft. Und seit drei Wochen bereits tot.

Die Nachricht traf mich gestern völlig unvorbereitet. Das Organscreening zeigte, dass dein Herz nicht mehr schlägt und dass du zwei Tage nach der letzten Frauenarzt-Untersuchung überraschend gestorben bist. Weißt du, durch die Krankheit deiner Schwester war ich der festen Überzeugung, dass wir unser Maß an Leid bereits erledigt hätten. In ihrer Krankheit haben wir sie, wie Abraham seinen Isaak, Gott geschenkt, in der Hoffnung, dass Er sie uns zurück schenkt. Unsere Hoffnung wurde nicht enttäuscht – Gott sei Dank!

Kinder sind wirklich ein Geschenk. Du warst uns nur 17 Wochen hier auf Erden anvertraut, ehe du rund um den 22. Mai gestorben bist. Die medizinische Ursache weiß ich nicht, vielleicht werde ich sie auch nie erfahren. Sie spielt auch keine Rolle, den auch so weiß ich, dass ich nie deine Stimme hören werde. Ich werde nicht wissen, wie es klingt, wenn du „Papi!“ rufst. Ich werde deine leuchtenden Augen nicht sehen. Ich werde dir gar nichts beibringen können. Du wirst dich nie an mich kuscheln und ich werde dir nichts von Jesus erzählen können und dass er auch für dich am Kreuz gelitten hat, um dir das ewige Leben zu schenken. Du wirst auch nicht mit mir gemeinsam Geburtstag feiern – das wäre sich nämlich gut ausgegangen.

Heute an deinem Geburtstag, der drei Wochen nach deinem Todestag folgte, kamst du mit der intakten Fruchtblase zusammen auf die Welt. Eine rötliche, schwabbelnde Fleischmasse. Und da drinnen du, so klein und verletzlich! Ich konnte dich nicht vor diesem frühen Tod beschützen. Die Hebamme hat dich vorsichtig herausgenommen und in eine Nierentasse gebettet. Da lagst du nun. Ein Bub, wie uns die Hebamme sagte. Rötlich, glänzend, eine Haut wie aus Glas. Geschlossene Augen. Eine breite Nase. Darunter ein Schnurrbart aus Käseschmiere. Und ein herziges, leicht geöffnetes Mündchen, vor dem du zuerst noch deine fast durchsichtige Hand mit den so feinen Fingern hieltest. Um deinen Hals die Nabelschnur. Ein dunkler, aufgedunsener Oberkörper, Beine wie aus rotem Edelstein.

Ein erstes Kreuzzeichen auf deine Stirn. Wir dürfen mit dir im Zimmer sein. Deine Mami und ich überlegen, welchen Namen wir dir geben. Die Versuchung ist da, dir statt des Vornamens, mit dem wir dich gerufen hätten, wenn du im Oktober geboren worden wärst, einen anderen zu geben, der auch gut ist, aber den wir für ein lebendes Kind nicht verwendet hätten. Wir ringen zunächst, muss ich zu meiner Schande gestehen. Bis wir entdecken, dass wir in dieser Situation Großherzigkeit brauchen. Wir lassen unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen los. Und übergeben sie mit dir an Gott. Du erhältst also den Namen, den wir dir auch bei deiner Geburt im Herbst gegeben hätten: Jakob. Ergänzt wird dein Name durch einen der Tagesheiligen deines vermutlichen Todestages, Donatus, dessen Statue nicht nur in unserem neuen Heimatort steht. Donatus heißt auf Deutsch: Der Geschenkte, weil wir dich zurück schenken mussten. Wir schenken dich an den himmlischen Vater zurück, nicht mit einem zweitklassigen Namen, sondern mit dem besten, für den wir uns entschieden hatten: Jakob Donatus Joseph.

Jakob hat Gott seinen Segen abgerungen: Ich lasse dich nicht los, bevor du mich nicht gesegnet hast! Deine Mami und ich beten gemeinsam um diesen Segen Gottes für dich. Mit dem Weihwasser zeichnen wir dir ein Kreuz auf die Stirn und bitten darum, dass Gott einen Weg findet, dich auch ohne Taufe in sein himmlisches Reich aufzunehmen. Und wir bitten Maria, dass sie jetzt deine Mami ist. Weil deine Mami es jetzt nicht mehr sein kann.

Nach dem Gebet verspüren wir beide einen tiefen inneren Frieden. Der Glaube trägt. Deine Mami und ich kennen das schon von der Krankheit deiner Schwester. Auch jetzt bewährt sich der uns geschenkte Glaube, getragen durch das Gebet so vieler betender Freunde. Was für ein Geschenk, nicht allein vor Gott in solchen leidvollen Situationen zu stehen.

Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten in solchen Situationen. Entweder ist alles sinnlos oder jemand kann darauf eine Antwort geben. Das ist mir damals bei der Seelenmesse für das kleine Mädchen klar geworden, das mit deiner Schwester im Krankenhaus war. Ich habe mich damals entschieden, auf den Sinn zu hoffen. Denn die andere Option ist in sich sinnlos.

Ich bewundere auch wieder die Stärke deiner Mami. Was für eine gottesfürchtige und mutige Frau! Wie sie dich ansieht und in ihren Händen hält! Wir machen Fotos. Wir halten dich abwechselnd und schauen dich still an. Dein friedliches Antlitz zeigt einen schlafenden Engel. Diese Zeit mit dir wird mir immer in kostbarer Erinnerung bleiben. Dich an mein Herz zu halten. Still zu trauern und mich zugleich von deiner sanften Ausstrahlung trösten zu lassen. Deinen Leib, der so wunderbar geschaffen und noch geheimnisvoller wieder genommen wurde, anzuschauen – eine eigene Form der Anbetung.

Wir kommen wieder aufs Zimmer zurück und richten dich her, tupfen dir das Blut, das aus deiner kleinen Nase herausrinnt mit einem Taschentuch vorsichtig weg. Die fürsorglichen Krankenschwestern haben dich in eine mit buntem Papier geklebte und verzierte Schachtel gelegt. Deine Geschwister möchten dich gerne sehen. Deine Mami und ich bereiten sie auf das vor, was sie sehen werden. Mit der Offenheit, die Kinder eigen ist, finden sie, dass du süß aussiehst und freuen sich, dich zu sehen und zu berühren. Sie erhalten Papier, um dir etwas zeichnen zu können, was sie dir in dein Grab bei den anderen zu früh geborenen Kindern mitgeben können. Deine Schwester schneidet ein Baby aus dem Papier aus und malt es rot an. Das bist du! Dein Bruder zeichnet den Weg zum Spielplatz, damit du ihn auch kennen lernst. Beides wird sorgfältig in deiner Schachtel verstaut. Deine zierlichen Fuß- und Handflächen werden mit Stempelfarbe eingefärbt, um Abdrücke auf einer Erinnerungskarte zu hinterlassen. Die Kinder würden am liebsten mit dir spielen und ich mache mir Sorgen, dass sie dir deine Ärmchen ausreißen, wenn sie dich berühren. Aber du bleibst ganz ruhig liegen und lässt alles geduldig mit dir geschehen. So scheint es mir jedenfalls.

Es wird Zeit für unser Familienabendgebet. Dieses Mal zu fünft mit dir in unserer Mitte. Du kennst das Gebet schon von deiner Zeit im Bauch deiner Mami. Als ob du schon immer dabei warst, erlebe ich deine Gegenwart so lebendig. Wir verabschieden uns von dir, zuerst deine Mami, dann deine Schwester und dein Bruder und zum Schluss ich. Jeder zeichnet dir ein Kreuz auf die Stirn und spricht ein Segenswort. Die Schachtel wird mit dem Deckel zugemacht und der Krankenschwester übergeben.

Wir schauen dir nach. Du gehst bereits zu unserem himmlischen Vater vor. Wenn unsere letzte Stunde kommt, wirst du uns am Eingang des Himmels begrüßen. Was für eine Freude wird das dann sein, aber nicht weniger tränenreich als heute! Mein lieber Sohn, das erhoffe ich von ganzem Herzen! Was für ein geheimnisvolles Geschenk, dich als meinen Sohn gehabt zu haben, und ich freue mich auf dich, Jakob Donatus Joseph! Sei für unsere Familie ein Fürsprecher – wir brauchen dein Gebet!

Dein dich innig liebender Papi


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