An der Lieferkette

Konkret 07/2013
Zum Beispiel Bangladesch: Jede Industriekatastrophe in der Arbeitshölle der Dritten Welt nehmen die Medien hierzulande zum Anlaß, das Märchen von der Reformierbarkeit des Kapitalismus wiederzubeleben.

Sind wir nicht alle ein bißchen Kapital? Auf diesen Standpunkt scheinen sich bürgerliche Medien zurückzuziehen, wenn mal wieder die massenmörderischen Folgen der globalisierten Warenproduktion im Spätkapitalismus zu beklagen sind. Die »Taz« etwa sieht in ihrem Kommentar zum Einsturz eines Fabrikgebäudes in Bangladesch, dem Ende April mehr als 1.100 Textilarbeiterinnen zum Opfer gefallen sind, wie selbstverständlich zuerst die »Verbraucher« gefordert, die »eine Mitverantwortung für die von ihnen konsumierten Produkte« hätten. »Billige und skandalfreie Ware « könne es nicht zum »Nulltarif« geben, heißt es, »wir« müßten »mehr zahlen« und »uns auch darum kümmern …, wie produziert und geprüft wird«.
Mit dieser Haltung liegt die »Taz« ganz auf der Linie anderer investigativer Blätter wie etwa der »Brigitte«, die Anfang Mai ihren Leserinnen empfahl, beim nächsten Shoppingbummel doch mal bei der Kassiererin im Klamottenladen nachzuhaken, was das Unternehmen denn unternehme, »um die Menschenrechte in der Lieferkette sicherzustellen«. Bei diesem baumwollwindelweichen Vorschlag kommen selbstverständlich nur die Schichtenspezifischen Wahrnehmungsdefizite des opportunistischen Mittelklasseangehörigen zum Ausdruck, für den es schlicht unvorstellbar ist, daß Menschen in der BRD gezwungen sein könnten, möglichst billige Kleidung zu kaufen – was insbesondere beim Zentralorgan der Partei der Grünen tragikomisch wirkt. Das Hausblatt der Partei, die gemeinsam mit Schröders SPD mittels der Agenda 2010 dafür gesorgt hat, daß die BRD einen der europaweit größten Niedriglohnsektoren aufweist (22,3 Prozent), fordert nun den »Verbraucher« dazu auf, mehr Geld für Klamotten auszugeben.

Neben dem an die Selbstverantwortung des Konsumenten appellierenden Kommentator der »Taz« wirkt sogar der Papst wie ein Revoluzzer, der immerhin von »Sklavenarbeit« sprach, als er die in Bangladesch üblichen Monatslöhne (ca. 38 Euro) kommentierte. Das Alternativblatt, dessen politische Klientel sich um die zügige Annäherung der deutschen Arbeitsregimes ans Dritte-Welt-Niveau verdient gemacht hat, beklagt nun die Billigmentalität und den entsprechend großen Markt für Textildiscounter, beides Ergebnisse von Hartz IV und Agenda 2010. Diese Konsumentenschelte«, die schon vor dem Hintergrund der Prekarisierungstendenzen in der BRD absurd ist, wirkt im Krisengeplagten Europa, dessen südliche Peripherie durch das deutsche Spardiktat in eine ökonomische Zusammenbruchsregion mit einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 50 Prozentverwandelt wird, schlicht obszön.

Doch diese Pseudokritik an der Billigmentalität in den rasch abschmelzenden »Wohlstandsinseln« im Zentrum des spätkapitalistischen Weltsystems taugt noch aus einem anderen Grund nichts: Nicht nur Textildiscounter lassen in Bangladesch produzieren, auch die teureren Klamotten der meisten Markenhersteller werden oft unter ähnlich menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wie in dem kollabierten achtstöckigen Fabrikkomplex in einem Vorort von Dhaka, dessen oberste Stockwerke ohne Genehmigung errichtet worden waren. In den Trümmern fanden sich nicht nur Textilien der Discounter Kik und Primark, sondern auch von Benetton. Bekannte Marken und Handelsketten wie C&A, Esprit, H&M, GAP, Adidas, Tchibo, Metro oder Tesco lassen ihre  Kleidungsstücke in dem rund 160 Millionen Einwohner zählenden Billiglohnland produzieren, das binnen einer Dekade zur Nähstube Südostasiens aufsgetiegen ist. Die im Zuge der Globalisierung rasch expandierende Textilindustrie, die westlichen Konzernen inzwischen jährlich Bekleidungsstücke im Wert von 15 Milliarden Euro liefert, machte Bangladesch zum – nach China – zweitgrößten Textilexporteur der Welt. Rund 3,5 Millionen Arbeiterinnen (der Anteil der Frauen in der Textilindustrie liegt bei 80 Prozent) schuften in der wirtschaftlich dominierenden Bekleidungsindustrie, wobei insgesamt fast 20 Millionen Menschen von deren mageren Löhnen abgängig sind. Bangladesch liefert inzwischen rund neun Prozent aller Textilimporte der Euro-Zone und circa 12,5 Prozentaller Textileinfuhren in die BRD.

Diese »Erfolgsgeschichte« ist nur dank der gnadenlosen Ausbeutung der Arbeitskräfte in Bangladesch möglich gewesen, das mit einem Bruttoinlandsproduktwert von 704 US-Dollar pro Kopf (2011) zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. In Reaktion auf den Zusammenbruch des Fabrikgebäudes ließ die Regierung zwar den Monatsmindestlohn von umgerechnet knapp 30 Euro auf rund 40 Euro erhöhen, aber damit liegt er immer noch unter dem Existenzminimum – bei einer durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate von acht Prozent. Die offizielle wöchentliche Arbeitszeit beträgt 60 Stunden, doch lassen die Regelungen viele Schlupflöcher, so daß die Arbeiterinnen oft bis zu 15 Stunden am Tag arbeiten müssen. Sexueller Mißbrauch, Gewalt, Lohnraub und unerträgliche Arbeitsbedingungen sind in der Branche an der Tagesordnung. Ab einem Alter von 14 Jahren wird das Menschenmaterial in diesen archaisch anmutenden Tretmühlen geschunden. Bezahlten Urlaub gibt es nicht.

Diese Zustände sind den westlichen Konzernen, die dort produzieren lassen, selbstverständlich bekannt: Adidas etwa ließ noch Ende 2012 seine Zulieferer in Bangladesch zu »Workplace Standards« verpflichten, die eine 60-Stunden-Woche für Arbeiterinnen ab 15 Jahren vorsahen – die bei außergewöhnlichen Umständen « verlängert werden kann. Und tatsächlich ist diese Industrie in ein Netz politischer Korruption gebettet, das den weitverbreiteten Mißbrauch der Arbeitskräfte erst ermöglicht und brutale extralegale Repressionen gegen Gewerkschaftsaktivisten deckt. Immer wieder werden Kritiker und Gewerkschafter inhaftiert oder schlicht exekutiert – wie etwa der prominente Aktivist Aminul Islam, dessen mit Folterspuren übersäte Leiche im vergangenen Jahr gefunden wurde, nachdem er einen Arbeitskampf in einer Fabrik hatte organisieren wollen, die Kleidung, unter anderem für Tommy Hilfiger, herstellte.

Um zu verstehen, wieso selbst die Hersteller von Markenklamotten ihre hippen Kollektionen unter solch barbarischen Bedingungen fertigen lassen, ist ein Radiobericht des stockkonservativen Bayerischen Rundfunks aufschlußreicher als jede Lektüre der »Taz«: Der schwäbische Textilunternehmer Rudolf Loder, der sich drei Jahre lang als Subunternehmer an der Ausbeutung von 2.000 Arbeitskräften in Bangladesch vor Ort versuchte, schilderte seine Erfahrungen, die ihn zur Geschäftsaufgabe nötigten, in einem Radiointerview Ende 2012: »Trotz Billiglohn und alledem hat man am Schluß auch nichts verdient«, jammerte Loder und verwies auf den »beständigen Preisdruck« seiner westlichen Auftraggeber. Die »großen Firmen« hätten »nichts bezahlt«, so daß er sich mit »Pfennigbeträgen« zufriedengeben mußte. Mögen die Arbeitsbedingungen in Bangladesch noch so erbärmlich sein, die Marktkonkurrenz sorgt dafür, daß sich selbst in diesem Elendsgebiet die effektivsten Ausbeutungsformen durchsetzen – und die kann die heimische Textilbourgeoisie immer noch besser garantieren als unerfahrene, zugereiste schwäbische Menschenschinder.

Klaus Werner Lobo, Autor des Schwarzbuchs Markenfirmen, schilderte den für die kapitalistische Wirtschaftsweise konstitutiven Konkurrenzmechanismus in der Branche gegenüber dem Bayerischen Rundfunk folgendermaßen: »Das Prinzip ist einfach: Produktlinien werden ausgeschrieben, der Billigste kommt zum Zug. Wenn an einem Standort – zum Beispiel China – Löhne und Produktionskosten steigen, wandert die Karawane weiter nach Vietnam oder Kambodscha. « So etwas wie einen politisch korrekten Turnschuh« gebe es nicht, erklärte Lobo »Überlegen Sie lieber, ob’s ihr alter nicht noch ein paar Kilometer macht.« Beim Kapitalismus handelt es sich eben um eine marktvermittelte Konkurrenzveranstaltung, bei der diejenigen Marktakteure entscheidende Vorteile erringen können, die mit größtmöglicher Rücksichtslosigkeit und Brutalität ihre Profite zu maximieren wissen. Ungekehrt gilt, daß diejenigen Textilkonzerne, die sich diesem Rattenrennen verweigern, Konkurrenznachteile erleiden. Deswegen gibt es keine gutmütigen Kapitalisten (mehr) – sie sind längst Bankrott gegangen. Und deswegen wird die gesamte Fair-Trade-Bewegung auch künftig nur ein marginales Marktsegment bedienen, dessen Volumen in direkter Korrelation mit dem schlechten Gewissen der linksliberalen Mittelklasse schwanken wird.

Daran wird auch die Feel-Good-Kampagne nichts ändern, die die Textilindustrie mit breiter publizistischer Unterstützung der Medien in Reaktion auf den Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes gestartet hat. Rund drei Dutzend westliche Textil- und Handelskonzerne einigten sich auf ein Sicherheitsabkommen in Bangladesch, das unter anderem die Kontrolle der erhöhten Sicherheitsstandards in den Zulieferbetrieben durch unabhängige Inspektoren ermöglichen soll. Zudem wollen die Konzerne einen nicht näher bezifferten »finanziellen Beitrag« zur Renovierung der maroden Produktionsstätten in dem Billiglohnland leisten. Laut »Spiegel Online « handelt es sich dabei aber nur um eine Art Taschengeld, da jeder beteiligte Konzern pro Jahr lediglich »etwa 100.000 bis 500.000 Euro« beisteuern müsse. Zudem sind keine Verbesserungen bei der Ausbeutungsintensität – etwa den extremen Arbeitszeitregelungen – geplant. Die medienwirksamen Maßnahmen erinnern somit an die Netze, die der chinesische Elektronikzulieferer Foxconn nach einer Selbstmordserie in seinen Fabriken und Arbeiterkasernen anbringen ließ, um weitere Suizide verzweifelter Arbeiter zu verhindern – während die Arbeitshetze an den Fließbändern aufrechterhalten wird. Mit diesen Maßnahmen sollen schlechte Nachrichten verhindert sowie Unkosten minimiert und die Ausbeutung der Arbeitskräfte optimiert werden. Sanktionen bei Zuwiderhandlungen (etwa Strafzahlungen) sehen die Regelungen nicht vor, statt dessen sollen die Ergebnisse der Kontrollen veröffentlicht werden. Im Endeffekt handelt es sich bei diesem Bangladesch-Abkommen um eine Public-Relations-Kampagne, bei der ein weiteres Mal das Märchen von der nachhaltigen Zivilisierung des Kapitalismus geträumt wird: »Große Modeketten beugen sich Protesten«, titelte etwa »Spiegel Online«.

Zur Verbesserung der Lage der Textilarbeiterinnen könnte schon eher die von der Regierung von Bangladesch jüngst angekündigte Legalisierung von Gewerkschaften beitragen – vorausgesetzt, diese Ankündigung ist ihrerseits nicht nur eine Publicity-Maßnahme. Bislang konnten Gewerkschaften in Bangladesch in den Betrieben nur mit Zustimmung des Fabrikbesitzers aktiv werden. Entscheidend sind aber die Beschränkungen, die diesem Abkommen auferlegt wurden. So werden nur circa 1.000 der knapp 5.000 in Bangladesch ansässigen Fabriken von den neuen Sicherheitsvereinbarungen erfaßt, während etliche große Konzerne wie Walmart oder GAP ankündigten, eigene »Aktionspläne « umsetzen zu wollen – die aber ebenfalls nicht rechtsverbindlich sein werden. Schließlich – und das ist der wesentliche Punkt – betreffen diese Regelungen nur Bangladesch. Somit stellen sie einen Standortnachteil für dieses Land dar, das sich ja ebenfalls im Konkurrenzkampf um Industrieniederlassungen mit anderen »Wirtschaftsstandorten« befindet.

Ungefähr zur selben Zeit, als das »Bangladesch- Abkommen« unterzeichnet wurde, starben beim Einsturz der Decke einer Schuhfabrik in Kambodscha mehrere Arbeiter, ohne daß dies einen Aufschrei in der westlichen Öffentlichkeit produzierte. Das Land hat damit einen klaren Konkurrenzvorteil gegenüber Bangladesch. Angeführt von der Walt Disney Company, die ihren vollständigen Rückzug aus dem nun in Verruf geratenen Billiglohnland ankündigte, hat bereits eine Absetzbewegung aus Bangladesch eingesetzt, wie die »New York Times« Mitte Mai berichtete. Westliche Manager würden nun  potentielle neue Lieferanten in Südvietnam, Zentralkambodscha und dem Hinterland von Java« ins Auge fassen.  Derzeit verschafft der Name Bangladesch unserer Firma ein negatives Image«, erklärte ein Unternehmensmitarbeiter gegenüber der »New York Times«.

Ein grundlegender, den gegenwärtigen globalen Krisenprozeß ursächlich antreibender Widerspruch kapitalistischer Produktionsweise spiegelt sich in der Elendsökonomie Südostasiens. Auch wenn das kapitalistische System auf die alten Tage segmentweise zurückgeworfenscheint auf seine barbarische Entwicklungsstufe im 18. Jahrhundert, als zerschlissene Kinderhände in 15-Stunden-Schichten Webstühle bedienen mußten, so kann es bei dieser Flucht in die Vergangenheit doch nicht den eskalierenden Widersprüchen entkommen, die es selbst hervorbringt. Dieses archaische System, das auf der Verwertung von Arbeitskraft beruht, macht durch beständige konkurrenzvermittelte Produktivitätssteigerungen – die auch die Textilindustrie zu erfassen beginnen – Lohnarbeit tendenziell überflüssig. Sie ist daher in vielen Branchen nur noch zu Löhnen unter dem Existenzminimum möglich, wie ausgerechnet »Welt Online« zutreffend beschrieb: »Die letzte Erhöhung des Mindestlohns in Bangladesch auf 30 Euro pro Monat hatte übrigens zur Folge, daß 300 Textilfabriken schlossen und Tausende Arbeiterinnen auf der Straße landeten, stellt sogar das Aktionsbündnis Clean Clothes Campaign (CCC) fest.« Es sei nicht auszuschließen, daß »erhöhte Arbeitsschutzmaßnahmen beim heutigen Produktivitätsniveau ähnliche Wirkungen haben.«

Die Optionen, die der späte Kapitalismus diesen »überflüssigen« Menschen läßt, hat der »Tagesspiegel« aufgezählt. Sollten weitere Konzerne dem Beispiel Disneys folgen, drohe den Textilarbeiterinnen Bangladeschs »weitere Verelendung, die Straße oder gar Prostitution«. 15-Stunden-Schichten, Straßenstrich oder Hungertod – vor diesen Alternativen finden sich immer mehr Lohnabhängige nicht nur in Bangladesch.


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