Amotz Zahavi - Am 12. Mai 2017 ist der bedeutende israelische Vogelkundler gestorben

Einleitend: Kurze Übersicht zu naturwissenschaftlichen Theorien über die Ursachen der Evolution von Körpermerkmalen und Verhaltensweisen bei Pflanzen, Tieren und Menschen (1859-2001)

  1. Individual-Selektion (Das Überleben (die Auslese) des „Besseren") - - - Charles Darwin 1859
  2. Geschlechtliche Selektion (Bsp.: Pfauenschwanz) - - - Charles Darwin 1859, R. A. Fisher 1930
  3. Kritik an dem Anspruch der darwinischen Selektionstheorie, schon für alle in der Evolution entstandenen Erscheinungsformen die Ursachen nennen zu können - - - Mathilde Ludendorff 1921, Adolf Portmann 1958
  4. „Artwohl"-/Gruppenwohl-Konzepte (in der Verhaltensforschung) - - - Konrad Lorenz 1930er Jahre
  5. Verwandten-Selektion - - - William D. Hamilton 1964
  6. Gegenseitigkeits-Selektion - - - Robert Trivers 1971
  7. Gruppen-Selektion - - - William D. Hamilton/George Price 1975, David Sloan Wilson 1994/98
  8. Handicap-Prinzip - - Amotz Zahavi 1975/1997

Anmerkung (20.6.17): Diese Übersicht wäre für den Zeitraum seit 2001 natürlich zu ergänzen, etwa durch die Superorganismus-Theorie von E.O. Wilson, bzw. Mehrere-Ebenen-Selektionstheorie oder durch die Theorie konvergenter Evolution von Simon Conway Morris.

Familienformen bei Vögeln: Wie ziehen Vögel ihre Jungen auf?

Wenn wir daran denken, wie Vögel ihre Jungen aufziehen, so kommt uns als erstes in den Sinn, daß dies ein Elternpaar in einem (Vogel-)Nest tut. Dies kommt sehr häufig bei mitteleuropäischen Singvogel-Arten vor. Es ist diese Aufzuchtform aber bei weitem nicht die einzige, die überhaupt bei Vögeln vorkommt. Es gibt noch zahlreiche andere Formen und Varianten.

Es besteht die Möglichkeit, daß ein „alleinerziehendes" Elternteil seine Jungen in einem Nest aufzieht. Weiterhin besteht die Möglichkeit, daß ein Elternpaar seine Jungen in einem Nest zusammen mit Helfern aufzieht, die sich dabei selbst nicht fortpflanzen. Dies sind die in der Soziobiologie so genannten - und häufig vorkommenden - „helpers at the nest". Es handelt sich bei ihnen oft um herangewachsene Söhne oder Töchter, sowie Tanten oder Onkel des Elternpaares, die selber keinen Nistplatz oder Paarungspartner gefunden haben. Diese Helfer können auch bei allen folgenden Aufzucht-Formen beteiligt sein.

Es besteht weiterhin die Möglichkeit, daß ein Männchen seine Jungen mit mehreren Weibchen, die sich alle fortpflanzen, in einem gemeinschaftlichen Nest aufzieht. Dies kommt zum Beispiel bei den Straußen vor. Es besteht die Möglichkeit, daß ein Weibchen zusammen mit mehreren Männchen, die alle an der Fortpflanzung beteiligt sind, seine Jungen in einem gemeinschaftlichen Nest aufzieht. Als Beispiel können Galapagos-Bussarde oder Schottische Weihen genannt werden.

Schließlich besteht aber auch die Möglichkeit, daß mehrere Vogelpaare mit jeweils eigenen Nestern als Gruppe gemeinsam ein Revier gegen andere Gruppen verteidigen. Und schließlich besteht die Möglichkeit, daß mehrere Vogelpaare ein gemeinschaftliches Nest haben und gemeinsam als Gruppe ihr Revier gegen andere Gruppen verteidigen. Diese Vogelpaare können zusätzlich noch Helfer dabei haben oder nicht. Als Beispiele hierfür werden genannt der Mittelamerikanische Riefenschnabel-Ani und der Graudroßling auf der Sinai-Halbinsel (2, S. 259f).

Diese zuletzt genannten Graudroßlinge haben ein außerordentlich intensives und enges Gruppenleben. „Graudroßlinge sind Singvögel der artenreichen Gruppe Timaliidae. Die Graudroßlinge in Israel gehören zu einem Zweig dieser Familie, der sich von Indien aus nach Nordwesten über Wüstengebiete bis nach Marokko erstreckt." (2, S. 222)

Aber interessanterweise scheint sich das enge und intensive Gruppenleben der Graudroßlinge nicht allein aufgrund der Lebenszwänge des vorgefundenen Lebensraum herausgebildet zu haben, wie man zunächst annehmen könnte und wie dies auch naheliegend ist. Denn viele indische Graudroßlingarten leben in Gruppen, „obwohl ihre Lebensräume sehr unterschiedlich sind und auch erfolgreich von solitären Singvögeln bewohnt werden." (2, S. 258) Innerhalb dieser Gruppe treten nun die einzelnen Graudroßlinge in einen Wettbewerb darüber, wer den meisten Edelsinn, den meisten Altruismus, wer die meiste Nettigkeit gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern, den Jungen und für die Gruppe allgemein aufbringt. Dieses Verhalten ist so ungewöhnlich, daß es die Forscher, die dieses Verhalten nun schon seit Jahrzehnten studieren, dazu veranlaßt hat, eine völlig neue Evolutionstheorie aufzustellen, eine Evolutionstheorie, die nicht nur für die Graudroßlinge selbst oder für Vögel, sondern grundsätzlich für alle in der Evolution hervorgebrachten Organismen gelten sollte und könnte!

,Darf ich Ihnen helfen?' ‚Danke, es geht schon.' ‚Ich bestehe darauf.' ‚Oh, vielen Dank, nicht nötig.' ‚Aber es wäre mir ein Vergnügen ...'" Mit diesem aus einem typischen menschlichen Verhaltensbereich herausgenommenen Worten ist ein Aufsatz über die Forschungen an den Graudroßlingen und über die Theorie, die sich aus diesen Forschungen ergeben hat, eingeleitet (3). Und tatsächlich könnte sich die Frage stellen: Woher könnte eigentlich eine solch weitgehende Nettigkeit, Hilfsbereitschaft unter Menschen stammen - vor allem auch unter Menschen, die gar nicht einmal verwandt miteinander sind?

Denn genetische Verwandtschaft, das ist heute eines der stärksten Fundamente biologischer Verhaltensforschung, ist eine der stärksten - auch rational begründbaren - Wurzeln für Hilfsbereitschaft unter Lebewesen aller Art auf dieser Erde.

Sind hierfür allein die stammesgeschichtlichen Wurzeln des Altruismus zu nennen in der Art, wie sie bisher von der Biologie und der Soziobiologie beschrieben wurden (also solche Prinzipien wie Verwandten-Altruismus, Gegenseitigkeit, Gruppenselektion und Artwohl)? Könnten nicht auch noch ganz andere Mechanismen am Werk sein? Die Natur stellt uns immer wieder vor die allerunmöglichsten, unerwartetsten Fragen und Möglichkeiten zur Lösung von Rätseln, auf die man nicht im entferntesten von selbst hätte kommen können.

Die in bis zu 20-köpfigen sozialen Gruppen lebenden und ihre Jungen gemeinsam aufziehenden Graudroßlinge legen ein Verhalten an den Tag, das auf den ersten Blick bei jedermann nur Kopf schütteln hervorrufen muß. Eine Gruppe von israelischen Wissenschaftlern hat dieses Kopfschütteln länger auf sich wirken lassen, als das zumeist geschieht. Sie hat diese Vogelart nun schon mehr als 30 Jahre lang gründlich beobachtet und erforscht und ist dabei letztendlich auf sehr allgemeine Gedanken und Prinzipien der Evolution geraten, die auf den ersten Blick außerordentlich ungewöhnlich erscheinen, die sich aber dann letztlich doch irgendwie in ein Gesamtbild einordnen lassen.

Warum hat der Hirsch so ein prächtiges Geweih?

Immer einmal wieder wird an die Arbeiten des genialen Schweizer Biologen Adolf Portmann (1897-1982) ( Wiki) erinnert, um aufzuzeigen, daß es in der modernen Evolutionsforschung noch vielerlei Lücken gibt, die zumindest das gegenwärtige biologische Wissen nicht in Widerspruch stehen lassen zu den Thesen der Philosophie Mathilde Ludendorffs über die Evolution. Ein in diesem Zusammenhang behandeltes Beispiel ist etwa das Geweih des Hirsches (6).

Adolf Portmann hat auch immer darauf hingewiesen, daß die sonderbar ungeschützte Anordnung des männlichen Hodens beim Hirsch und beim Menschen in völligem Widerspruch zu allem gängigen darwinischen Gedankengut steht. Wenn denn der Hoden die für die Selbst- und Arterhaltung allein gebrauchbaren Samen enthält und ein Tier ebenso wie ein Mensch für die klassische darwinistische Selektion „unbrauchbar" wird, wenn er keinen Hoden mehr besitzt, so muß es mehr als sonderbar anmuten, daß die Natur dieses Körperteil gerade an so exponierter Stelle außerhalb des Körpers angebracht hat.

Wie soll das durch die klassische darwinische Selektion erklärt werden? Müßten nicht jene Tiere viel bessere Fortpflanzungschancen haben, deren Hoden innerhalb der übrigen Außenhaut des Körpers liegt? Im Rahmen der seit zwei Jahrzehnten aufgekommenen Verwandten-Selektions-Theorie könnte man eine derartige Leichtigkeit der Kastration in dem Sinne deuten, daß Kastraten ja die geborenen „Helfer am Nest" sind - ebenso wie ja auch die Arbeitstiere in den Insektenstaaten ebenfalls fortpflanzungsunfähig sind.

Doch Adolf Portmann hatte schon auf einen Umstand hingewiesen, der aus dem Schönheitsempfinden des Menschen (und vielleicht auch der Tiere?) abgeleitet war. Der exponierte und deutlich sichtbare Hoden des Hirsches stand für ihn in einem geradezu ästhetisch sinnvollen Verhältnis zum Geweih. Ebenso wie das mächtige Geweih konnte der Hoden, wenn sich der Hirsch längsseitig „präsentiert" Männlichkeit, Fortpflanzungsfähigkeit demonstrieren. Also stellt dies ein Signal innerhalb der sozialen Hierarchie und der Rivalenkämpfe um Paarungspartner dar?

Der Graudroßling, der Gentleman

Im Lichte einer neu aufgekommenen verhaltensbiologischen Theorie, nämlich der „Handicap-Theorie" scheinen die Portmannschen Vermutungen eine ganz unerwartete Bestätigung und Erweiterung gefunden zu haben. Diese Theorie nahm ihren Ausgangspunkt von dem Verhalten einer ganz merkwürdigen, gesellig lebenden Graudroßlingart im heutigen Palästina. Man höre hierüber den erstaunlichen, ausführlicheren Bericht (2 , S. 235) :

- Graudroßlinge gewöhnen sich sehr leicht an diese! -
Und in einem anderen Bericht ist zu erfahren (3):

Graudroßlinge legen die höchstgradige (ultimative) Art von Edelsinn (Nettigkeit) an den Tag. Diese unscheinbaren, kleinen, braunen Vögel, die auf der arabischen und der Sinai-Halbinsel leben, sind so edel (nett) zueinander, daß sie darüber miteinander in den Wettbewerb treten, wer von ihnen der Edelste (Netteste) ist.

Normalerweise bestehen sie zwischen drei und zwölf Tieren (3):

Auch erwachsene Graudroßlinge füttern einander." (2, S. 241) „Beispielsweise schluckt ein Graudroßling die gefundene Nahrung nicht sofort hinunter, sondern hält sie im Schnabel und sucht nach jemandem, den er füttern kann." (2, S. 223)

Neben der Verwandten-Hilfe gibt es noch eine anderen möglichen indirekten Nutzen, der aus der Kooperation gezogen werden kann. Es ist möglich, daß es Vorteile für die ganze Gruppe gibt, die die Nachteile für das Individuum, seine Zeit für die Hilfe anderer aufzuopfern, aufwiegen. Gruppen von Graudroßlingen, die einander helfen, könnten besser daran tun, als Gruppen, die dies nicht tun, weil sie dann weniger anfällig für Angriffe sind oder weil es ihnen leichter fällt, ihre Jungen zu füttern.

Und Lynn Hunt schreibt dazu 1999 im "New Scientist" (3):

Graudroßlinge haben eine differenzierte soziale Hierarchie. Das Rangsystem ist im wesentlichen auf Alter und Geschlecht begründet, Männchen haben Vorrang über Weibchen und ältere Vögel dominieren jüngere. Aber innerhalb dieses festen Rahmens gibt es ein anderes operierendes System. Zwischen Vögeln von gleichem Alter und Geschlecht ist der soziale Status" (das Prestige, Ansehen)„variabel. Er wechselt im Verlauf der Zeit im Verhältnis dazu, wie weit es jedem einzelnen Vogel gelingt, nett zu sein. Weil das Inanspruch-Nehmen von guten Taten"

(eines anderen Individuums)

„den Status mindern kann, ist das Geschäft, nett zu sein, mit Widersprüchen belastet. Ein untergeordneter Vogel kann sich zum Beispiel weigern, von einem anderen gefüttert zu werden, selbst wenn er hungrig ist, weil durch solches Tun sein Status wirksam vermindert würde. Untergeordnete verwenden so viel Zeit wie möglich darauf, die Jungen zu füttern, weil dies ihren sozialen Status (ihr Prestige) erhöht. Wenn aber ein dominanter Vogel am Nest ist, bewegt sich der weniger dominante weg. Wenn er dies nicht tut, wird der dominante Helfer ihn dadurch in die Schranken weisen, daß er ihn putzt - eine nichtaggressive Vorführung von sozialem Status. Die Vögel konkurrieren in der gleichen Weise um Wächter-Pflichten. Am häufigsten hält das Alpha-Männchen hoch oben auf einem Zweig sitzend Ausschau nach Raubtieren. Gelegentlich wird es durch einen weniger dominanten Vogel ersetzt. Wenn es aber zurückzukehren wünscht, wird es sich dem Wächter nähern und ihn dadurch von seinen Pflichten entbinden, daß es ihn füttert."
In jüngster Zeit wurde ein neuer Typ von Gegenseitigkeit vorgeschlagen, der selbst dann evoluieren kann, wenn die gleichen zwei Individuen sich niemals wieder begegnen. Das Konzept von der indirekten Gegenseitigkeit, vorgeschlagen von Martin Nowak und Karl Sigmund, benutzt Computermodulationen. Allen Tieren in dem Modell wird ein ‚Image-Score' zugesprochen, das allen anderen Spielern wahrnehmbar ist und das ‚Image-Score' eines Individuums ändert sich entsprechend wie es gesehen wird, wie es sich verhält. Dieses Modell zeigt auffallende Ähnlichkeit zu dem, was bei den Graudroßlingen geschieht.
Befriedigen aber kann es Zahavi nicht. ‚In dem Modell geben Tiere mehr, so daß sie mehr zurückerhalten, selbst wenn es durch ein anderes Individuum ist,' sagt er. ‚Aber Graudroßlinge verhalten sich feindlich gegenüber Vögeln, die etwas erwidern wollen. Sie scheinen von dem Schenken selbst zu profitieren.'"
Carlisle berichtet von einem Fall, bei dem ein acht Monate altes Weibchen versuchte, seine zwei Monate ältere Schwester zu füttern, die daraufhin aufstand, die Nahrung aus dem Schnabel der jüngeren Schwester schnappte, sie zwang, sich zu ducken wie jemand, der um Nahrung bettelt, und ihr die Nahrung in den Hals stopfte. Als die jüngere Schwester die Nahrung geschluckt hatte, pickte die ranghöhere Schwester so lange nach ihr, bis sie floh.
Dieser Typ von Signal hat den zusätzlichen Vorteil, einem potentiellen Heiratspartner oder Kooperationspartner zu demonstrieren, was für ein toller Partner man sein würde. Und was noch mehr ist: Man vermeidet Kränkungen sich selbst und anderen gegenüber. Wenn der Graudroßling-Altruismus als ein solches Signal-System evoluiert ist, ist es nicht länger schwierig, ihn im Rahmen der natürlichen Selektion zu erklären, weil das Verhalten direkte Vorteile für das Individuum bringt. Um so mehr man die Leiter aufsteigt, um so wahrscheinlicher ist es, daß man eine Möglichkeit zur Fortpflanzung bekommt. Es gibt keine Gefahr der Täuschung in diesem System, weil ein Vogel, der nicht kooperiert, ziemlich auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter stehen würde und immer von Rivalen übergangen wird, wenn es um Fortpflanzungs-Möglichkeiten geht."

Zahavi selbst (2, S. 228):

Das hier neu vorgelegte „Handicap-Prinzip" ist ein so allumfassendes, allgemein gefaßtes Prinzip, daß es dazu angelegt erscheint, derartige, einstmals von Adolf Portmann aufgezeigte Lücken und nur angedeutete Vermutungen besser und klarer, eindeutiger verstehbar, erklärbar, einsichtiger zu machen und zudem auch noch viel tiefer gehende, weitergehende Blicke in die Geheimnisse der Evolution, ihre Grundprinzipien - ja letztlich vielleicht in den Sinns des Lebens - zu werfen.

Das lustige, foppende, spielerische Prinzip der Evolution?

Es mag sein, daß der von den israelischen Wissenschaftlern gewählte Begriff „Handicap" ein mißverständlicher sein könnte oder doch zumindest nicht geeignet ist, die gesamte (auch philosophische) Tragweite, den gesamten Inhalt der von ihnen vorgelegten Theorie adäquat wiederzugeben. In einer Hinführung zu diesem Prinzip soll noch nach anderen Benennungen gesucht werden. Man könnte es auch das Überfluß-, das Überschwang-Prinzip der Evolution nennen. Man könnte es auch das humoristische, neckische, intelligente, provozierende, andere ärgernde, angeberische, lustige, foppende, spielerische Prinzip der Evolution nennen.

Denn wer gesund, „helle", fröhlich, wach ist, läßt es gerne einmal darauf ankommen, spielt mit seinen Kräften und Möglichkeiten, wagt sich etwas kühner und wagemutiger hervor, als er dies unter den üblichen, „normalen" Umständen und Lebensbedingungen tun würde, wo allzuoft vor allem ein sehr ausgeprägter „Sicherheitstrieb" vorherrschend ist, der all solche Dinge sehr dämpfen kann. Oft ist aber eine größere, kühnere, spielerischere Risikobereitschaft die sicherere, gewissere Überlebensstrategie, als das allzu starke Dominieren eines allseitigen, nur allein vorherrschenden Sicherheitstriebes (vgl. 7).

Man könnte es auch das „Halbstarken"-Prinzip der Evolution nennen - oder gar das „Genie-Prinzip" der Evolution? Das Innovations-Prinzip der Evolution? Alles ist Freude, Kraft, Überschwang - bei aller Unbeholfenheit, Lächerlichkeit, bei allem Pomp, aller falschen (lächerlichen) Würde.

Ja: Liegt denn auf dem Grund dieses Prinzips nicht letztlich auch die Antwort auf die Frage, warum Etwas ist und nicht vielmehr nicht Nichts? Etwa: Warum es Vielzeller gibt und nicht etwa nur Bakterien? Warum es Säugetiere gibt und nicht etwa nur Reptilien? Warum es überhaupt Jungenaufzucht, Brutpflege (durch Eltern) gibt und nicht vielmehr einfach nur ein Sichselbst-Überlassen von einmal gelegten und befruchteten Eiern?

Aber ist ein so allgemeines Prinzip dann nicht letztlich auch geeignet, unlebendige Erscheinungen zu erklären? Warum es überhaupt ein Weltall gibt und nicht vielmehr überhaupt keines - eine der Grundfragen aller Philosophie und Naturforschung.

Vielleicht hat ja das Spielerische, Neckische einen Wert in sich, der keiner weiteren Erklärung bedarf? Ist nicht das ganze Weltall ein „Handicap"? Stellt es denn nicht nur eine unnötige Belastung dar? Haben nicht fast alle unsere Eigenschaften neben dem Pompösen etwas Handicap-haftes an sich?

Handicap-Prinzip heißt: Ich mache es mir schwerer, als ich es müßte und als eigentlich auch von mir zu erwarten wäre, weil ich dadurch denen, mit denen ich kommuniziere (Artfeinde, Artgenossen, Rivalen, Geschlechts-Partner, Eltern, Kinder) zu einem Verhalten veranlassen kann, das zu meinem eigenen (genetischen) Vorteil ist.

Interessant ist, daß dieses Handicap sehr oft zugleich etwas Ästhetisches (oder auch in tieferem Sinne „Moralisches") in sich birgt. Es hätte ja auch sein können, daß ein solches Prinzip überhaupt keine ästhetische Wertigkeit mit sich führt. Aber selbst die Frischlinge der Wildschweine muten uns mit ihrer „Handicap"-Färbung auf den ersten Blick nun nicht unbedingt gerade „gehandicapt" an, sondern vor allem erst einmal hübsch, niedlich, „süß". Sie spricht irgendwie doch irgendein Schönheitswollen im Menschen an.

Es scheint immer etwas zu sein, das „weiterführend" ist, das über das bisher Erreichte hinausführt, über den eigentlichen biologischen Zweck. Es scheint, daß der biologische Zweck selbst nur eine Neben-Auswirkung des Handicaps darstellt, eines Handicaps, das ansonsten „um seiner selbst willen" da ist und „zufälligerweise" mit den Bedingungen der darwinischen Selektion übereinstimmt, beziehungsweise ihnen nicht widerspricht. Es scheint eine höhere Wertigkeit innerhalb des bisherigen Alltäglichen aufzuweisen und - „zufälligerweise" - gerade sehr oft auch dem menschlichen Schönheitsempfinden entgegen zu kommen. Es hat das also immer mit Inhalten zu tun, die nach einer Philosophie wie derjenigen von Mathilde Ludendorff sehr eng an den zentralen Bereich des Sinnes des Lebens anschließen.

Theorien von fast unbegrenzter Verrücktheit"

Ein nüchterner Wissenschaftler spricht im Zusammenhang mit dem Handicap-Prinzip von „Theorien von fast unbegrenzter Verrücktheit", wobei er aber betont, daß er sie für richtig hält. Es ist Richard Dawkins, der dies sagt, einer der weithin anerkannten „Päpste" der Soziobiologie. Er schreibt über den theoretischen Biologen Grafen, der wichtige Argumente lieferte, die zur wissenschaftlichen Anerkennung der Handicap-Theorie betrugen: „Wenn Grafen recht hat - und ich glaube, das ist der Fall -, so ist dieses Resultat von erheblicher Bedeutung für das gesamte Studium der Tiersignale." Der dem Handicap-Prinzip lange Zeit ebenso kritisch gegenüberstehende Grafen hatte das Handicap-Prinzip mathematisch erfaßt, um auf diese Weise bewerten zu können, ob es sich tatsächlich in der Evolution bewähren könnte. Er war zu dem Ergebnis gekommen: Ja, tatsächlich, das kann es. Dawkins setzt fort (4, S. 498):

„Es könnte sogar eine radikale Veränderung unserer ganzen Betrachtungsweise der Evolution des Verhaltens erforderlich machen, eine radikale Veränderung auch unserer Haltung zu vielen der in diesem Buch erörterten Fragen. ... Ich halte diese Aussicht für ziemlich beunruhigend, denn sie bedeutet, daß Theorien von fast unbegrenzter Verrücktheit nicht mehr beiseite geschoben werden können, nur weil sie dem gesunden Menschenverstand widersprechen."

Die göttliche Freude an der Leistung"

Der Wissenschaftler Zahavi spricht etwa von dem „Stolz" der Graudroßlinge, er spricht davon, daß sie mit ihrem Altruismus, ihrer Risikofreude beim Einsatz für die Gruppe „angeben". Ist es richtig, hierin ein erstes deutliches Aufleuchten, Ahnen des von der Philosophie mit dem Begriff „Gottesstolz" benannten Phänomens (8) zu sehen? „
Graudroßlinge sind stolz, Zeit zu verschwenden oder ein Risiko auf sich zu nehmen und sie geben damit an," sagte er in dem oben angeführten Bericht. Von dem heranwachsenden Kind oder Jugendlichen heißt es in der Philosophie (9

"Zuerst leuchten, geweckt vom Gottesstolze, in dem Ich der Wille, in Erscheinung zu treten, und der Wille, in Erscheinung zu verweilen, auf. Ihr Erwachen kündet uns die göttliche Freude an der Leistung an."

Abschließende Bemerkung: Es handelt sich hier nur um einen Aufsatzentwurf. Und es wird deutlich, daß es das Thema wert wäre, noch einmal gründlich nach vielen Seiten hin überarbeitet und durchdacht zu werden.

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(dieses Manuskript entstand 2000/2001

[zuletzt abgespeichert am 16.5.2001];

drei Literaturangaben wurden ergänzt [1, 5 und 8])

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  1. Zahavi, Amotz und Avishag: Signale der Verständigung. Das Handicap-Prinzip. Insel-Verlag, Frankfurt/M. 1998

  2. Dawkins, Richard: Das egoistische Gen. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000 (1994, Erstauflage 1976)

  3. Voland, Eckart; Uhl, Matthias: Angeber haben mehr vom Leben. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002

  4. Preisinger, Werner: Die Evolution aus der Sicht von Naturwissenschaft und Philosophie. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 4, 1979, S. 73

  5. von Cube, Felix: Gefährliche Sicherheit. Die Verhaltensbiologie des Risikos. Piper-Verlag, München 1990

  6. Ludendorff, Mathilde: Des Kindes Seele und der Eltern Amt. Eine Philosophie der Erziehung. Verlag Hohe Warte, Pähl 1954


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