Amos Oz. Judas

amos_oz_judasWinter 1959/60. Ein Haus in der Rav-Albas-Gasse in Jerusalem. Ich bin weit weg und tauche erst nach 332 Seiten Lektüre wieder auf. Zurück in der realen Welt. Zurück in Berlin. Wieder da und doch nicht hier. Denn “Judas” ist kein Roman, den man zuschlägt und vergisst. Ich rede, atme, lache und leide weiter mit den Figuren von Amos Oz. Sein perfekter kleiner Kosmos ist mir so nah geworden in den Tagen des Lesens. Wie in einem kleinen Kammerstück spielt sich hier fast alles ab. In jenem Haus in der Rav-Albas-Gasse …

… wieder höre ich Dielen knarren, sehe die kleine Küche. Ich sehe den Studenten Schmuel Asch, wie er aus seiner Dachkammer herabsteigt, den Bart frisch gepudert. Mit seinen wild gewachsenen Locken unter der Schapka und im ewigen Dufflecoat, schmiert er sich sein tägliches Marmeladenbrot. Ich bewundere die 45jährige Witwe Atalja Abrabanel. Unnahbar und wunderschön mit ihren braunen Augen und dem sinnlichen Glitzern darin. Sie behauptet von sich selbst, kein Herz zu haben. Nimmt sich einfach, was sie braucht. Knorrig wie ein alter Olivenbaum wiederum wirkt Gershom Wald mit seinem schneeweißen Haar. Seine blauen Augen strahlen voller Klugheit und Wissen. Manchmal aber ist er wie ein alter Junge, voller Schabernack und Spott. Drei Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen, Lebenswegen und Meinungen.

Für eine kurze Zeit tritt Schmuel eine Stelle an in diesem Haus. Als geistiger Unterhalter für den alternden Gershom Wald.  Ohne Zukunftsvorstellungen und ohne Geld hofft er, in dieser Tätigkeit eine neue Orientierung zu finden. Sein Studium und seine Arbeit über Jesus aus der Perspektive der Juden hat er nicht beendet. Warum ihn ausgerechnet das interessieren würde, fragt Atalja ihn eines Tages. Warum nicht, wie die Juden Mohammed oder Buddha sehen? Schmuel antwortet, es interessiere ihn deshalb, weil Jesus eigentlich gar kein Christ gewesen sei. Weil Jesus als Jude geboren und als Jude gestorben sei und nie eine neue Religion hat gründen wollen: Wenn die Juden ihn akzeptiert hätten, hätte die Geschichte ein völlig anderes Gesicht bekommen. Die Kirche wäre nicht entstanden. Und vielleicht hätte Europa eine nachgiebige und geläuterte Version des Judentums übernommen. So wären uns die Diaspora, die Verfolgungen, die Pogrome, die Inquisition, die Ritualmordbeschuldigungen, die Judenfeindlichkeit und auch die Schoah erspart geblieben (S. 125/126). Habe ich darüber je nachgedacht? Wie wären die letzten 2000 Jahre verlaufen, hätte Judas Jesus nicht verraten? Auch die Gedanken und Gespräche von Gershom Wald, Atalja und Schmuel kreisen um dieses zentrale Thema.

Auch Gershom Wald behauptet aus tiefster Überzeugung, dass Jesus ein Jude und Fleich von ihrem Fleische (S.227) gewesen sei. Dass die Christen aber hartnäckig in Jesus ihren Erlöser haben sehen wollen. Nicht Jesus aber, sondern Judas sei der erste Christ gewesen. Eine Antwort finde ich im Roman nicht, doch viele Ideen und Ansätze, selbst weiter zu denken. Amos Oz verleiht jeder seiner drei Hauptfiguren eine ganz eigene Stimme. Und so zynisch und verachtend wie Gershom Wald oft wirkt, so zweifelnd, sanft und offen erlebe ich Schmuel.

Es steckt so viel drin in diesem tiefsinnigen Roman. Neben den religiösen Auseinandersetzungen geht es auch immer wieder um Ben Gurion und die Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 geht. Und dass es bis zu jenem Tage noch immer die Möglichkeit gegeben hätte, ein gemeinsames Land für Juden UND Araber zu gründen, um vereint die Briten zu vertreiben. Ein Verzicht auf die Idee eines jüdischen Staates hätte Frieden in Nah-Ost bedeuten können, statt den Hass der Araber auf die Juden zu verstärken. Und wie sollten die Araber die Juden denn lieben, diese Fremden, die plötzlich aufgetaucht sind wie von einem anderen Stern und ihr Land  und ihren Boden weggenommen haben, ihre Felder und Dörfer und Städte, die Gräber ihrer Vorfahren und das Erbe ihrer Söhne (S. 114). In der Figur des Schmuel fragt Oz weiter:  … sagen Sie mir, ob es ein einziges Volk auf der ganzen Welt gibt, das mit offenen Armen eine so plötzliche Invasion Hunderttausender Fremder aufnehmen würde, Millionen Fremder, die von weit weg kommen und die seltsame Behauptung aufstellen, dass in ihren heiligen Büchern, die sie aus der Fremde mitgebracht haben, ihnen und nur ihnen das ganze Land versprochen wurde? (S. 115).

Dieser Aussage stellt Amos Oz immer wieder auch die Sicht der aus Europa geflüchteten und geretteten Juden gegenüber. Weil es – genau wie in der Geschichte um Jesus und Judas – ja nicht nur eine Wahrheit gibt. “Judas” ist ein Roman über Israel und Palästina. Ein Roman darüber, dass Vergeben und Vergessen allein nicht genügen. Wie wichtig es ist, Vorurteile und Hass auf beiden Seiten zu beenden und einen kompletten Neustart zu wagen. Für mich liest sich der Roman wie der große Wunsch des Autors um Versöhnung beider Seiten.

Aber es ist auch ein großer Liebesroman. Tragisch und schön. Mit Sätzen, die zutiefst berühren und so unvergesslich bleiben wie dieser: Sein Herz flog ihr zu, aber die Worte blieben stecken (S. 96).

Mein Herz ist gestern Abend Amos Oz und Christian Brückner zugeflogen. Beide standen für eine zweistündige Lesung aus “Judas” auf der Bühne im Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. Moderator Christian Lehnert und Übersetzerin Lilian-Astrid Geese haben die wundervolle Veranstaltung begleitet, zu welcher der Suhrkamp Verlag eingeladen hatte. Es war großartig. Es war einzigartig schön. In der Einführungsrede wurde Amos Oz vorgestellt als jemand, der als Freund des Friedens für den Frieden kämpft. Amos Oz sei ein besonderes Beispiel was Kunst will und kann. Wieder einmal wird mir klar, was gute Romane bewegen können. Der schönste Moment des Abends war für mich der, als Amos Oz an das Pult auf der Bühne getreten ist, um auf Hebräisch ein paar Zeilen aus seinem Roman vorzulesen. Da fühlte und verstand ich, was Ulla Unseld-Berkéwicz in ihrer Begrüßung als Phantasievorstellung beschrieb – wie sie als kleines Mädchen hätte neben ihm sitzen können in Jerusalem, um seinen Geschichten zu lauschen. Und wie sie ihn gebeten hätte (ohne ein Wort Hebräisch zu verstehen) weiter zu erzählen und immer weiter. Dem Klang seiner Stimme hätte auch ich gern noch länger gelauscht. Muss aber gestehen, dass es dann auch beeindruckend war, der deutschen Übersetzung zu folgen. Christian Brückners Lesung war ein Hochgenuss. Selbst Amos Oz hatte sich diesem Sog nicht entziehen können, wie er anerkennend bemerkte.

Aus dem Hebräischen übersetzt wurde das Buch von Mirjam Pressler, die dafür in der Kategorie Übersetzung den “Preis der Leipziger Buchmesse 2015″ gewonnen hat.

Amos Oz. Judas. Aus dem Hebräischen Mirjam Pressler. Suhrkamp Verlag 2015. 332 Seiten. 22,95 €



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