Droht den Vereinigten Staaten ein erneutes Abdriften in die Rezession?
Eine der renommiertesten Institutionen der US-Wirtschaftswissenschaften, das in Cambridge (Massachusetts) ansässige National Bureau of Economic Research (NBER), zog am vergangenen Montag einen offiziellen Schlussstrich unter die längste Rezession der amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Der Einschätzung des NBER zufolge begann der jüngste Wirtschaftseinbruch im Dezember 2007, um nach 18 Monaten um Juni 2009 zu Ende zu gehen. Damit übertraf dieser tief greifende Abschwung den mit ausartender Inflation einhergehenden Einbruch von 1973 bis 1975 (Stagflation), wie auch die schwere US-Rezession von 1981 bis 1982, die beide laut offizieller Lesart 16 Monate andauerten. Dennoch löste diese in der amerikanischen Öffentlichkeit breit rezipierte Erklärung keine Begeisterungsstürme aus. Dafür ähnelt der schwächelnde US-Aufschwung zu sehr der überwundenen Rezession. Es kümmere ihn nicht, ob die „Große Rezession“ für beendet erklärt worden sei, bemerkte beispielsweise Präsident Barack Obama, für Millionen von Menschen, die immer noch arbeitslos seien, wäre die Rezession „immer noch sehr real“. In der öffentlichen US-Debatte dominiert viel eher die Fragestellung, ob den Vereinigten Staaten nicht ein erneutes Abdriften in den Abschwung – zumeist als Double Dip bezeichnet – drohe.
So berichtete beispielsweise die Nachrichtenagentur Bloomberg über die Vertiefung bereits bestehender Differenzen bezüglich des künftigen geldpolitischen Kurses in der amerikanischen Notenbank Fed. Der derzeitige Fed-Chef Bernanke müsse gemeinsam mit „seinen Kollegen entscheiden, wie dem Risiko einer Rezession in 2011“ zu begegnen sei. Wie das Wall Street Journal bereits Ende August meldete, haben sieben der 17 Notenbanker im Entscheidungsgremium der Fed – dem Offenmarktausschuss FOMC – die Fortführung der historisch einmaligen, expansiven Geldpolitik, wie auch den geplanten Aufkauf von US-Staatsanleihen kritisiert. Er könne sich nicht erinnern, dass die Fed jemals „so stark gespalten“ gewesen sei, kommentierte der ehemalige Notenbanker Laurence Meyer die derzeitigen Spannungen in der amerikanischen Notenbank gegenüber Bloomberg am 21. September - kurz bevor die Fed den Leitzins auf dem historisch niedrigen Niveau von 0,25 Prozent beließ und zudem erneut beteuerte, notfalls mit einer weiteren Lockerung der Geldpolitik gegen die drohende Rezession vorzugehen.
Stagnation und „natürliche“ Massenarbeitslosigkeit
Dabei deutet tatsächlich eine ganze Reihe von Indikatoren auf einen erneuten konjunkturellen Einbruch in den Vereinigten Staaten hin, der das gefürchtete Szenario eines „Double Dip“ wahr machen könnte. In erster Linie ist in diesem Zusammenhang die beträchtliche konjunkturelle Abkühlung von Bedeutung, die diese größte Volkswirtschaft der Welt erfasst hat. So mussten die vorläufigen Angaben zum amerikanischen Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2010 ende August vom US-Handelsministerium stark nach unten revidiert werden. Anstelle des ursprünglich geschätzten Wirtschaftswachstums von 2,4 % verzeichneten die USA einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von nur 1,6 % zwischen April und Juni 2010 gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Im ersten Quartal 2010 konnte die US Wirtschaft noch um 3,7 % wachsen, während es im vierten Trimester 2009 sogar satte 5,0 % waren. Das Wachstumstempo der Vereinigten Staaten verlangsamt sich somit bereits im dritten Quartal in Folge.
Bezeichnend ist vor dem Hintergrund dieser schwindenden konjunkturellen Dynamik, dass die Massenarbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten selbst in der Phase des stärksten Wirtschaftswachstums nicht substanziell gesenkt werden konnte. Selbst die offizielle, durch eine Vielzahl statistischer Manipulationen verzerrte Statistik weist eine Arbeitslosenquote von 9,6 % für den August 2010 auf, nachdem es im Vormonat 9,5 % waren. Dies ist nur ein sehr schwacher Rückgang der offiziellen Erwerbslosenquote in den USA, die auf dem bisherigen Höhepunkt der Wirtschaftskrise bei 10,1 % lag. Alternativberechnungen der Erwerbslosigkeit in den USA, wie sie etwa von der Website shadowstats vorgenommen werden, kommen hingegen auf eine Arbeitslosenquote von annähernd 22 %. Dabei sind in der offiziellen Statistik auch die Effekte der staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen berücksichtigt, die bald auslaufen werden. Allein 114 000 von der Bundesregierung geschaffene Arbeitsstellen gingen beispielsweise im August verloren, weil die Volkszählung in den Vereinigten Staaten beinahe abgeschlossen ist.
Während der Rezession schrumpfte die US-Wirtschaft um 4,15 %, was zu einem enormen Verlust von 8,3 Millionen Arbeitsplätzen führte. Die Auswirkungen dieses Wirtschaftseinbruchs auf den amerikanischen Arbeitsmarkt waren so heftig, dass Ökonomen und Analytiker inzwischen darüber diskutieren, ob im Zuge der Rezession nicht fundamentale strukturelle Veränderungen in der US Arbeitsgesellschaft stattgefunden haben, die irreversibel seien. Viele Ökonomen seien nun der Ansicht, dass die „natürliche Rate der Langzeitarbeitslosigkeit - das in einer Ökonomie nicht zu unterschreitende Niveau der Arbeitslosigkeit – sich signifikant nach oben verschoben“ habe, fasste die Federal Reserve Bank of Cleveland die gegenwärtigen Diskussionen in einem ökonomischen Kommentar zusammen. Vor allem der Anstieg der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit um 50 % auf 34 Wochen gegenüber früheren Rezessionen deutet darauf hin, dass die hier als „natürliche Arbeitslosigkeit“ ideologiesierte Krise der Arbeitsgesellschaft in den USA in ein neues Stadium getreten ist.
Erosion der Mittelklasse
Als regelrecht dramatisch müssen die fortdauernden Verelendungsschübe bezeichnet werden, die mit dem Anwachsen der Sockelarbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten einhergehen, und zu einer raschen Erosion der amerikanischen Mittelklasse führen. Trotz des seit drei Quartalen verzeichneten Wirtschaftsaufschwungs in den USA stieg die Anzahl der Empfänger von Lebensmittelmarken auf 41,2 Millionen im Juni 2010. Im Juni 2009, als die Längste US-Rezession der Nachkriegsgeschichte offiziell zu Ende ging, erhielten hingegen circa 35 Millionen Amerikaner Lebensmittelmarken. Während des inzwischen wieder erlahmenden Aufschwunges schwelte das Heer der Lebenskartenempfänger also um fünf Millionen Menschen an! Laut jüngst publizierter Statistik befanden sich Ende 2009 auch 43,5 Millionen US-Bürger unterhalb der offiziellen – ohnehin gnadenlos manipulierten – Armutsgrenze, während es 2007 circa 37,2 Millionen waren. Die schwere Rezession ließ auch das Lohnniveau in den Vereinigten Staaten einbrechen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der privaten US Haushalte sank von knapp 52.000 US-Dollar in 2007 auf 49.700 US-Dollar in 2009. Dieser Wirtschaftseinbruch von 18 Monaten reichte somit aus, um das Lohnniveau in den Vereinigten Staaten zurück auf den Stand von 1997 zu drücken.
Die ungebrochen voranschreitende Erosion der amerikanischen Mittelklasse wird auch an den steigenden Zwangsvollstreckungen deutlich. Längst sind nicht nur einkommensschwache Subprime-Hypothekennehmer von dem Verlust ihrer Eigenheime betroffen, wie es zu Beginn der Krise üblich war. Inzwischen verlieren auch viele in Arbeitslosigkeit geratene Mitglieder der Mittelklasse ihr Dach über dem Kopf. Die Anzahl der Zwangsversteigerung stieg im vergangenen August um 4,18 % auf knapp 339.000 an, womit sie seit 18 Monaten über der Marke von 300.000 liegt. In 2009 wurden nahezu vier Millionen Zwangsvollstreckungen in den USA durchgeführt, während es 2007 circa 2,2 Millionen waren. Zwischen Januar und August dieses Jahres - also nach überwundener Rezession – sind bereits 2,6 Millionen Eigenheime zwangsvollstreckt worden.
Auslaufende Konjunkturmaßnahmen
Die erlahmende Wachstumsdynamik deutet aber vor allem darauf hin, dass die belebenden ökonomischen Effekte des enormen amerikanischen Konjunkturprogramms langsam abflauen, in dessen Rahmen annähernd eine Billion US-Dollar in die Wirtschaft gepumpt wurde und das in 2009 den amerikanischen Konjunkturmotor am Laufen hielt. Dank umfassender staatlicher Transferleistungen und Steuererleichterungen konnte das verfügbare Einkommen in den USA - trotz fallendem Lohnniveau! - um 667 Milliarden US-Dollar angehoben werden. Ohne diese staatlichen Konjunkturmaßnahmen, die 532 Milliarden US-Dollar an zusätzlichen Transferleistungen und 382 Milliarden US-Dollar an Steuererleichterung umfassten, wäre das verfügbare Einkommen in den USA um 247 Milliarden US-Dollar gegenüber Dezember 2007 gesunken, was zu einem weiteren Einbruch der Massennachfrage geführt hätte. Diese massiven staatlichen Transferleistungen - die mit einer historisch beispiellosen Verschuldung des amerikanischen Staates einhergehen - hielten den privaten Konsum in den USA aufrecht, der als eine wichtige globale Konjunkturstütze fungiert. Die privaten Konsumausgaben in den USA summieren sich im zweiten Quartal 2010 immer noch auf etwas mehr als 70 % des US-BIP!
Schuldenberg wächst weiter
Diese im internationalen Maßstab herausragende Rolle des privaten Konsums innerhalb der amerikanischen Ökonomie wurde ja bekanntlich durch einen langfristigen Prozess der Verschuldung ermöglicht, in dem die Kreditaufnahme durch Konsumenten als zusätzliche Nachfrage die Konjunktur stimulierte. Inzwischen sehen auch amerikanische Finanzanalysten, wie etwa Gary Shilling, diese Zusammenhänge:
мDas gute Leben und rasche Wachstum, das in den frühen Achtzigern startete, wurde angetrieben durch massive Fremdkapitalaufnahme und exzessive Verschuldung, zuerst im globalen Finanzsektor, beginnend in den Siebzigern, dann ab den frühen Achtzigern durch die US-Konsumenten. Diese Kapitalaufnahme trieb die Dot-Com-Aktienblase in den späten Neunzigern und danach die Immobilienblase an.“
Ähnlich argumentierte der britische „Economist“, der das Ende eines schuldenfinanzierten „Superzyklus“ konstatierte, während dessen die ausufernde Kreditaufnahme die Wirtschaft befeuerte. Dabei hat ein Abbau des gigantischen Schuldenbergs des amerikanischen Privatsektors noch gar nicht begonnen – während zugleich die Schulden des amerikanischen Staates aufgrund der Maßnahmen zur Krisenbekämpfung bekanntlich auf 13.440 Milliarden US-Dollar (nahezu 13,5 Billionen!) explodierten. So sind die Schulden der privaten US Haushalte im zweiten Quartal 2010 mit 13.450 Milliarden US-Dollar sogar etwas höher als bei Krisenausbruch Mitte 2007, als diese 13.403 Milliarden US-Dollar betrugen. Ähnlich verhält es sich mit dem Schuldenberg des privaten Wirtschaftssektors jenseits der Finanzindustrie, dessen Verbindlichkeiten im genannten Zeitraum von 9949 Milliarden US-Dollar auf 10.909 Milliarden US-Dollar angestiegen. Einzig der US-Finanzsektor konnte seine Schulden abbauen: „von 15.173 auf 14.744 Mrd. Dollar,“ wie die Financial Times Deutschland (FTD) meldete. Die Schulden aller nichtfinanziellen Sektoren im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung sind seit 2007 von 217 auf 243 Prozent gestiegen.
Aufgrund dieser exzessiven, ungebremsten Verschuldung sowohl des Staates wie auch des privaten Sektors ist eine Rückkehr zum schuldenfinanzierten, konsumsgetriebenen Wachstum der vergangenen Jahrzehnte in den USA ausgeschlossen. Der US-Politik beliebt aber auch ein äußerst geringer Spielraum, um die Wirtschaft mit weiteren Konjunkturmaßnahmen anzukurbeln. Das im Vorfeld der US-Kongresswahlen im November von Obama angekündigte, sich auf 350 Milliarden US-Dollar belaufende Konjunkturpaket erreicht bei Weitem nicht mehr die Dimensionen der vorhergehenden Konjunkturmaßnahmen, die sich insgesamt auf nahezu eine Billion US-Dollar summierten. Zudem werden von diesem Maßnahmenpaket nur 200 Milliarden US-Dollar im Rahmen von Steuernachlässen bei Unternehmensinvestitionen in einem relativ kurzen Zeitraum von zwei Jahren aufgewendet, während die weiteren Programme eine sehr viel längere Laufzeit von sechs bis zehn Jahren aufweisen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieser halbherzigen Maßnahmen den drohenden Konjunktureinbruch weiter hinauszögern können.
Letztendlich wird wohl der amerikanischen Wirtschafts- und Geldpolitik nichts anderes übrig bleiben, als eine Inflationierung der US-Schulden voranzutreiben, und/oder eine erneute Blasenbildung auf den Finanzmärkten zu befördern.