Einer Serie, die sich mit Horrorlegenden und schockierenden Kriminalfällen befasst, die auf Aber- und Irrglauben basieren, geht der Stoff so schnell nicht aus. Die Menschheitsgeschichte ist schließlich reich an gutem Material. So erreicht auch "Lore" die zweite Runde. Die Amazon-Serie, die auf einem Podcast basiert, ist genau ein Jahr, nachdem die erste Staffel auf Deutsch ihre Premiere feierte, im Dezember 2018 mit sechs neuen, synchronisierten Folgen am Start.
Stilistisch unterscheiden sich die Folgen der zweiten Staffel in einigen Nuancen von ihren Vorgängern. Im Gegensatz zur ersten Staffel gibt es nun keinen Erzähler mehr, der durch die Geschichten führt und Hintergrundinformationen vermittelt. Auch die eingeschobenen Trickfilmsequenzen oder Originalaufnahmen fallen fast komplett weg. Die neuen Folgen stützen sich deutlich stärker auf die Spielfilmszenen mit Schauspielern, Kulissen und Requisiten. Zusätzliche Erklärungen werden jetzt in die Handlung selbst eingebettet, z.B., in dem einzelne Figuren das Erzählen übernehmen, oder erfolgen durch schriftliche Einblendungen. Zu den bekanntesten mitwirkenden Darstellern gehören diesmal Jürgen Prochnow ("The Da Vinci Code - Sakrileg", "24 - Twenty Four"), Thomas Kretschmann ("Der Untergang", "Avengers: Age of Ultron"), Steven Berkoff ("James Bond 007 - Octopussy", "The Tourist"), Paula Malcomson ("Die Tribute von Panem - The Hunger Games", "Deadwood") und Alicia Witt ("Düstere Legenden", "Ein Chef zum Verlieben").
Folge 1: Burke & Hare
Im Edinburgh des 19. Jahrhunderts schlagen sich die beiden irischen Einwanderer William Burke und William Hare mehr schlecht als recht durchs Leben. Als ein Bekannter von ihnen stirbt, verkaufen sie dessen Leiche an den Chirurgen Dr. Robert Knox, der ihnen weitere Zahlungen in Aussicht stellt, wenn sie ihm noch mehr frische Leichen bringen. Daraufhin beginnen die beiden Freunde, Prostituierte und Bettler nach der immer gleichen Methode zu ermorden, die keine Spuren an den Leichen hinterlässt. Ihr Geschäft mit dem Tod läuft gut, doch Hare wird zunehmend von Zweifeln und Gewissensbissen geplagt.
Rezension: William Burke und William Hare haben mit ihren Verbrechen Spuren bis in den heutigen Sprachgebrauch hinterlassen. Die Methode, einen Menschen zu töten, indem man ihm auf dessen Brustkorb kniend Mund und Nase zuhält, wird heute in Anlehnung an William Burke als "Burking" bezeichnet. Der irische Einwanderer hat diese unblutige Mordart perfektioniert, um seinem gut zahlenden Kunden Dr. Knox einwandfreie Leichen zu liefern, die Medizinstudenten sezieren konnten, ohne ihr Mittagessen hochzuwürgen. Je besser erhalten der Körper, desto höher der Preis. Das wird in dieser Episode mit einer Prise schwarzem Humor unterstrichen. Sarkastisch erscheint über den Köpfen von Burkes und Hares tatsächlichen oder möglichen Opfern die zu erzielende Summe in Pfund und Schilling: £9 6S, £11 3S, £8 7S ... Die Geschichte von Burke und Hare wurde bereits in der Vergangenheit, etwa in einem Film aus dem Jahr 2010, mit viel bösem Humor aufbereitet. Letztlich sind die so genannten "West-Port-Morde" tatsächlich eine Story von absurder Tragik. Insgesamt 16 Menschen wurden unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Forschung ermordet, um Männern, denen die Wissenschaft eigentlich herzlich egal war, die Taschen zu füllen. Während William Hare als Kronzeuge straffrei blieb, büßt William Burke bis heute. Er wurde 1829 gehängt und sein Körper seziert. Sein Skelett ist bis zu diesem Tage ein Ausstellungsstück im anatomischen Museum der Edinburgh Medical School - und mehrere tausend Pfund wert.
Folge 2: Elisabeth Báthory
Als die aus einem verarmten Adelsgeschlecht stammende Margit im Jahr 1611 an den Hof der ungarischen Gräfin Elisabeth Báthory gerufen wird, glaubt sie an eine erfolgreiche und glückliche Zukunft. Sie ahnt nicht, welch grausame Angewohnheiten die Gräfin pflegt. Um sich ihre Jugend und Schönheit zu bewahren, quält und ermordet Elisabeth Báthory junge Frauen und badet in deren Blut. Als Margit den Albtraum erkennt, in dem sie gelandet ist, gibt es schon keine Rettung mehr.
Rezension: Der Schönheitswahn ist keine Erfindung unserer heutigen Zeit. Schon im 17. Jahrhundert war Frau offenbar zu drastischen Maßnahmen bereit, um Falten und graue Haare zu bekämpfen. Wer schön sein will, muss andere leiden lassen. Die Legende der "Blutgräfin" Elisabeth Báthory, die mehr als 600 Jungfrauen ermordet haben soll, ist weltweit bekannt, vielfach verfilmt und floss auch in den Vampirmythos mit ein. Diese Folge lässt keinen Zweifel daran, dass die ungarische Gräfin eine sadistische Mörderin war, die den Glauben vertrat, Jungfrauenblut würde ihren Alterungsprozess aufhalten. Historisch betrachtet spricht vieles dafür, dass Elisabeth Báthory Dreck am Stecken hatte, aber ob ihre Verbrechen tatsächlich von solchen Dimensionen waren, wie es heute heißt, ist zumindest fraglich. Man muss sich immer vor Augen halten, dass es in der damaligen Zeit nicht unüblich war, Untergebene zu misshandeln. Es ist daher vorstellbar, dass Elisabeth Báthory über die Stränge schlug und ihre Exzesse Todesopfer forderten, was grausam genug wäre. Es bedeutet aber nicht, dass sie eine in Blut badende Massenmörderin war. Solche differenzierten Überlegungen haben freilich keinen Platz in dieser Folge von "Lore", in der wirklich viel Blut fließt.
Folge 3: Hinterkaifeck
Der abgelegene Hof Hinterkaifeck in Bayern wird im Jahr 1922 Schauplatz eines entsetzlichen Verbrechens: Die sechs Bewohner werden mit einer Reuthaue, einer Art von Hacke, erschlagen. Wer ist der Mörder, der nach der Tat noch einige Tage auf dem Hof blieb, und was war sein Motiv? Die Polizei erweist sich als überfordert. Ist an den Gerüchten, dass es in Hinterkaifeck spukt, etwas Wahres dran?
Rezension: Auf diese Folge war ich besonders gespannt, da ich bereits einiges über den Sechsfachmord von Hinterkaifeck, einem der berühmtesten und mysteriösesten Kriminalfälle der deutschen Geschichte, gelesen habe. Zu Beginn sehen wir die Ankunft eines Münchner Ermittlers an den Tatort in der bayerischen Provinz. Dann springt die Handlung einige Zeit zurück und wir werden Zeugen der letzten Tage und Momente der Opfer. Erfreulicherweise gelingt es "Lore" ziemlich gut, die Spannung aufzubauen und dem Zuschauer das Gefühl einer wachsenden Bedrohung zu vermitteln. Wir wissen, was passieren wird, und doch oder gerade deshalb spüren wir nervöse Beklemmung. Auch nach fast 100 Jahren ist der Fall Hinterkaifeck nicht aufgeklärt. Weder wurde der Mörder überführt, noch ist der genaue Tathergang bekannt. Was den Mörder betrifft, legt sich diese Episode nicht fest, sondern zeigt mehrere Möglichkeiten auf, die teilweise bis heute diskutiert werden. Der Tathergang wird so interpretiert, wie er sich abgespielt haben könnte. Zu den Hintergründen, die diesen Fall so schaurig-faszinierend machen, gehört die Tatsache, dass sich der Mörder vermutlich schon einige Zeit vor den Taten und mit ziemlicher Sicherheit noch nach den Verbrechen auf dem Hof aufhielt. Das erscheint skrupellos, heimtückisch und krankhaft. Es hat etwas von einem Spuk. Hinterkaifeck war, das geht schon aus der Tatsache hervor, dass Familienoberhaupt Andreas Gruber wegen Inzest mit seiner eigenen Tochter eine Haftstrafe verbüßen musste, definitiv kein harmonischer und sicherer Ort, sondern ein kalter und düsterer Schauplatz voller Schatten. Dies wird hier in knapp 52 Minuten gut vermittelt.
Folge 4: Die Uhr von Prag
Die Pest wütet in Prag. Der Arzt Dr. Kristoff Brehovy vermutet, dass ein Fluch über der Stadt liegt, seit vor 60 Jahren die prachtvolle Rathausuhr, die Orloj, stehen blieb. Jeder, der seitdem versucht hat, die Uhr wieder zu reparieren, verlor erst den Verstand und dann sein Leben. Die Brüder Dirvick und Jan begeben sich nach Prag, um die Uhr wieder zum Laufen zu bringen. Schnell gerät Dirvick vollkommen in den Bann der Uhr und erkrankt schwer. Um ihn zu retten, muss Jan das Geheimnis der Orloj lüften und erfährt von dem grausamen Schicksal ihres Erbauers.
Rezension: Über die Jahrhunderte hat das Handwerk der Uhrmacherei doch erheblich an Bedeutung verloren. Heute zeigen uns zahlreiche technische Geräte im Haus neben ihren eigentlichen Funktionen ganz lässig die Zeit an. Wer noch nie auf eine Mikrowelle geschaut hat, um zu erfahren, wie spät es ist, der werfe die erste Uhr! Die faszinierende Ausstrahlung alter, kunstvoll gefertigter Uhren können wir aber immer noch nachvollziehen. Die Prager Rathausuhr, auch bekannt als Orloj, ist ein Prachtexemplar, das im Jahr 1410 erbaut wurde. Als astronomische Uhr zeigt sie nicht nur die Uhrzeit, sondern auch die Lage von Sonne und Mond an. Außerdem kann sie die Zukunft vorhersagen. Zumindest behauptet das die Legende, die in dieser Folge vorgestellt wird. Damit ist die Orloj schon fast so multifunktional wie eine Mikrowelle. Atmosphärisch fällt "Die Uhr von Prag" gegenüber der vorherigen Folge doch deutlich ab. Die Geschichte über die beiden Brüder, die sich dem Fluch der Uhr stellen, wirkt sehr austauschbar. Man merkt schon, dass sich die Macher von "Lore" hier sehr frei aus dem Sagenschatz der Stadt Prag bedient haben. Eine überzeugende Struktur fehlt, ebenso wie die historische Genauigkeit.
Folge 5: Mary Webster
Im 17. Jahrhundert glauben die Bürger der Stadt Hadley in Massachusetts, dass die zurückgezogen lebende Mary Webster eine Hexe ist. Auch die junge Verity Hollister vertritt diese Überzeugung. Sie bestärkt den sterbenden Philip Smith darin, dass Mary die Schuld an dessen Erkrankung trägt. Als Verity mehr über Mary erfährt, ändert sie jedoch ihre Meinung. Entsetzt muss sie erkennen, dass sie einen großen Fehler begangen hat, denn Philip Smith will die angebliche Hexe Mary Webster nun hängen.
Rezension: Angst braucht ein Gesicht. Wenn sich Menschen die Probleme und die Leiden, die sie plagen, nicht erklären können, weil ihnen dazu das Wissen und die Einsicht fehlen, neigen sie dazu, einen Sündenbock zu suchen. In Hadley, Massachusetts hieß der Sündenbock Mary Webster. Fiel die Ernte schlecht aus - Mary Webster war's. Starb das Vieh - Mary Webster war's. Wurden Menschen krank - Mary Webster war's. Ein ganz einfaches Prinzip, das schreckliche Auswirkungen wie die Hexenprozesse nach sich zog. Man macht es sich zu einfach, wenn man die Bewohner von Hadley als grundsätzlich bösartig und grausam abtut, viele von ihnen waren vor allem ängstlich, ungebildet und obrigkeitshörig. Oftmals war, wie diese Episode andeutet, das Verteufeln anderer Menschen auch eine Form des Selbstschutzes, um am Ende nicht selbst verteufelt zu werden.
Folge 6: Jack Parsons
Für John, genannt Jack, Parsons schließen sich Wissenschaft und Magie nicht aus, sie gehen Hand in Hand. Er wird in den 1930er Jahren Raketenforscher, um Menschen auf den Mond zu schicken, und gleichzeitig ein führender Okkultist, der Dämonen beschwört und Sexmagie praktiziert. Als er die Künstlerin Marjorie kennen lernt, sieht er in ihr seine Seelenverwandte, mit der er all seine Ziele verwirklichen kann. Marjorie hegt jedoch Zweifel an Jacks Lebensstil.
Rezension: Dies ist bisher mit Abstand die merkwürdigste Episode von "Lore" - leider nicht im positiven Sinne. Die Geschichte des okkultistischen Raketenforschers Jack Parsons, der ohne sein "Hobby" heute möglicherweise mehr Anerkennung für seine Beteiligung am amerikanischen Raketenprogramm erfahren würde, hat eine wirre Note. Der Versuch, in nicht ganz 60 Minuten Parsons wissenschaftliches Wirken, seinen umstrittenen Glauben und sein Privatleben zu vermitteln, war riskant und ist nicht wirklich gelungen. Hier haben sich die Macher von "Lore" etwas übernommen und letztlich eine Folge mit oft überzogener Symbolik kreiert, die viel will und wenig schafft.