Am liebsten würde ich selbst ein Stück machen!
Von Michaela Preiner
Volmir Codeiro (c) Alan Monot
11
August 2017
Tanz
Impulstanz
„Humane body – ways of seeing dance“ nannte sich ein Projekt im Rahmen von Impulstanz, das nun bereits im zweiten Jahr verfolgt wurde. Damit soll blinden und sehbehinderten Menschen der Zugang zu zeitgenössischem Tanz erleichtert werden.
Eine halbe Stunde vor der Vorstellung ist die Bühne des Schauspielhauses mit Menschen regelrecht bevölkert. Es sind aber nicht die Tänzerinnen und Tänzer der Gruppe um den Brasilianer Volmir Cordeiro alleine, die dort oben stehen und sich angeregt unterhalten. Vielmehr befinden sich auch sechs Frauen und ein Mann dort, die sich intensiv mit dem Ensemble austauschen. Es sind blinde und sehbehinderte Menschen, die bei dem von der EU geförderten Projekt „Humane body“ mitmachen. Sie sind Teil einer sogenannten „touch tour“, in der sie mit ihren Händen die Künstlerinnen und Künstler im wahrsten Sinne des Wortes „begreifen“ können, um sich einen Eindruck ihres Aussehens zu machen.VOLMIR CORDEIRO (FR/BR) The eye the mouth and the rest
Volmir Cordeiro
In der anschließenden Aufführung mit dem Titel „The eye the mouth and the rest“, die durch eine Audiodeskription begleitet wird, können diese Menschen durch das vorherige haptische Kennenlernen des Ensembles sich das Geschehen auf der Bühne viel besser vorstellen. Aber nicht nur die einzelnen Charaktere wurden für sie so erfassbar. Auch die Bühne an sich, ihre Länge, Breite und Tiefe und auch, wie der Publikumssaal selbst aussieht. Alles, was für Sehende völlig normal ist, muss Menschen mit Sehbehinderungen und Blinden erst einmal „übersetzt“ werden.
„Das beginnt schon damit, dass man sich genau überlegen muss, wo man einen Treffpunkt ausmacht. Vor dem Volkstheater ist zum Beispiel eine leichte Ortsangabe. Die kennen alle und können durch die öffentlichen Verkehrsmittel auch gut erreichen“, erzählt Johanna Figl. Sie ist neben Michael Stolhofer für das Projekt verantwortlich. „Bei den Workshops, die wir für diese Gruppe im Arsenal veranstaltet haben, schaut es aber schon wieder ganz anders aus. Da tun sich ja schon Sehende schwer, die richtige Location zu finden.“ So sind es also nicht nur Herausforderungen, die bei der Vermittlung mit dem künstlerischen Bereich von zeitgenössischem Tanz zu tun haben, die gemeistert werden müssen.
Insgesamt drei Produktionen wurden in diesem Jahr für dieses Publikum mit seinen speziellen Anforderungen adaptiert. Volmir Cordeiro beiindruckte sein Publikum nicht nur mit seiner furiosen, zum Teil anarchisch wirkenden Choreografie, in der er neben den Bewegungen extrem Wert auf die Mimik seines Ensembles legte. Auch der Sound (Cristián Sotomayor) bildete ein ergänzendes, stilistisches Mittel mit vehementer Kraft.
„Das Interessanteste an diesem Projekt ist, dass wir alle, egal ob blind, sehbehindert oder sehend, extrem viel dazulernen.“
Anne Juren
Mit Anne Juren kam die Gruppe schon vor deren Performance „Anatomie“ in Kontakt. Bei einem gemeinsamen Stadtspaziergang erklärte ein Blinder der Künstlerin, welche Eindrücke er dabei wahrnahm. In umgekehrter Reihenfolge hat dies Myriam Lefkowitz 2015 im Rahmen des Imagetanz-Festivals des brut vorgezeigt. Dabei begleitete sie jeweils nur eine Person durch die Stadt, wobei der oder die geführte dies mit geschlossenen Augen absolvieren musste. Einige Menschen brachen das Experiment ab. Zu unsicher erschien ihnen der Gang im für sie nur freiwilligen und kurzfristigen, orientierungslosen Dunkel.
Anne Jurens Performance eignete sich insofern sehr gut für dieses Projekt, als sie auch das sehende Publikum bat, es sich auf ausgelegten Matten im Kasino am Schwarzenbergplatz bequem zu machen und die Augen zu schließen. Wie schon in ihrer Arbeit „The Point“ im 21er Haus im Rahmen von Impulstanz 2015 entwarf sie ein gigantisches Kopfkino, welches sie mit Live-Geräuschen noch verstärkte. Dabei ließ sie zu Beginn eine Zunge den Körper liebkosen, ging dann über in eine Szenerie, in welcher Insekten in verschiedene Körperzonen eindringen und animierte schließlich einen Mund dazu, den rechten Arm der Zuhörerinnen und Zuhörer imaginär aufzufressen.
Die tiefenpsychologischen Reaktionen, die Juren dabei auslöste, finden nicht bei allen Menschen gleichermaßen statt. Es kommt ganz darauf an, wie sehr man sich der hypnotischen, leisen Stimme Jurens hingibt und sich auf den Egotrip einlässt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man sehend, sehbehindert oder blind ist. Was allerdings nur wenige Menschen aus dem Publikum mitbekamen, war jener Live-Act, den Juren mit ihrem Partner Frans Poelstra während der Performance vollführte. Poelstra, davor nackt am Boden hinter Juren liegend, war mit schwarzen Gummitüchern bedeckt, die ihn in der Hitze der Sommernacht auch nass schwitzen ließen. Die intensiven, körperlichen Berührungen der beiden, bei welchen sie ständig ihre Positionen wechselten, wurden durch die dabei erzeugten Geräusche rein auditiv nicht erfahrbar.
Vielmehr hatte die Performerin dieses Soundprogramm so geschickt in ihre Geschichte eingerahmt, dass die körperliche Aktion, die dazu stattfand, überhaupt nicht assoziiert wurde. Jegliche künstlerische Freiheit respektierend, wäre es dennoch wünschenswert gewesen, hätte Juren am Ende ihrer Performance die „entfernten“ Gliedmaßen wieder nachwachsen und jegliches Getier, das sie in die Publikumskörper eingeschleust hatte, wieder entfernen lassen.
Volmir Codeiro: „The eye the mouth and the rest“ (c) Alan Monot
Oben: Anne Juren: „Anatomie“ (c) Karolina Miernik
Mitte: Vera Tussing: „The Palm of Your Hand #2“ (c) Bert Van Dijck
Unten: Vera Tussing: „The Palm of Your Hand #2“ (c) Giannina Urmeneta Ottiker
Vera Tussing
War das Publikum bei dieser Performance nur aufgrund der eigenen Vorstellungsgabe mit eingebunden und bekam es bei Volmir Codeiro eine komplette Audiodeskription mitgeliefert, gestaltete sich Vera Tussings „The Palm of Your Hand #2“ wesentlich haptischer. Sie lud in einen Raum des Leopoldmuseums und stellte dort das Publikum, das zuvor Nummern ausgehändigt erhalten hatte, in ovaler Anordnung auf.
Die kleinen, am Boden fixierten, nummerierten Täfelchen gaben nicht nur Auskunft über die eigene Platzierung, sondern waren auch eine räumliche Orientierungshilfe für die Projektteilnehmerinnen und –teilnehmer. Geschickt ließ die Choreografin ihre Truppe, bestehend aus insgesamt fünf Menschen, so nah am Publikum entlang defilieren, dass dieses mit den Händen die Körper und Kostüme ertasten konnte.
„Ich fand es toll, dass die Kostüme so unterschiedlich waren, dass man einzelne Stoffe wie Glitzer oder Fransen gut voneinander unterscheiden konnte. Dadurch konnte ich die einzelnen Personen gut wiedererkennen“, gab eine blinde Dame bei der Nachbesprechung ihren Eindruck von dieser Veranstaltung wieder. „Schade war nur, dass ich doch einiges nicht mitbekommen habe. Das merkte ich, als die Frau neben mir zu lachen begann Da fehlte mir der Bezug zum Geschehen“.
Tatsächlich lebte die Performance auch von humorigen Augenblicken, in welchen das Ensemble mit dem Dehnen der Extremitäten versuchte, eine menschliche Kette von einem Punkt des Publikumsovals zu einem gegenüberliegenden zu bilden. Auch die Drehungen und Hebefiguren konnten von den Blinden und Sehbehinderten nur erahnt werden. Zwar wurden sie zum Teil so knapp vor den Besucherinnen und Besuchern ausgeführt, dass man den dadurch erzeugten Lufthauch gut wahrnehmen konnte, die darin vollführten Bewegungen erschlossen sich jedoch nur den Sehenden. Und das, obwohl die Teilnehmenden zuvor bei einem Workshop mit bestimmten Bewegungsmustern aus der Choreografie vertraut gemacht wurden. Tussing hatte ihre Performance extra für blinde und sehbehinderte Menschen umgearbeitet und gerade mit der Möglichkeit, während des Acts „begriffen“ werden zu können ins Schwarze getroffen.
Wie schon im Vorjahr, wurde auch heuer noch einmal Simon Mayers „Sons of Sissy“ audiodeskriptiv begleitet und sehr gut angenommen. Für die Beschreibungen hat das Humane-body-Team Sabine Macher und William Elliot verpflichtet, die in deutscher und englischer Sprache eine Live-Beschreibung des jeweiligen Bühnengeschehens abgeben. Dies wird mit Kopfhörern vermittelt und verlangt die Fähigkeit, aktuelles Geschehen in der Sekunde zu verbalisieren. Dass sich dabei selbst kleinste, persönliche Interpretationsansätze auf die inneren Bilder der Zuhörerschaft auswirken, zeigt die Anmerkung eines Teilnehmers. Er meinte, dass er die Interpretation einer Bewegung, in welcher der Tänzer als Baum mit Ästen beschrieben wurde, nicht gebraucht hätte, da ihn dieses Bild zu sehr fixiert hätte.
Vera Tussing „The Palm of Your Hand #2“ © Vera T Project
Alle lernen von allen
„Das Interessanteste an diesem Projekt ist, dass wir alle, egal ob blind, sehbehindert oder sehend, extrem viel dazulernen. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass wir uns bei dieser Pionierarbeit auf diesem Gebiet richtiggehend auf Augenhöhe begegnen.“ Johanna Figl fasst damit einen Output zusammen, der so von niemandem à priori vorherzusehen gewesen war. „Eine Kombination aus allen drei Vermittlungsansätzen wäre eigentlich toll“, resümierte eine Teilnehmerin und fügte noch hinzu: „Ich würde am liebsten ein eigenes Tanzstück kreieren. Aber ich weiß ja nicht, ob man dazu ein Tänzer oder ein Choreograf sein muss.“ Wenn das Projekt auch im kommenden Jahr von der EU gefördert wird, sollte diesem Wunsch, zumindest im Rahmen eines Workshops, eigentlich nichts im Wege stehen.
Neben Impulstanz nahmen das Centre National de la Danse Paris, das Kaaitheater Brüssel und The Place London an diesem EU-Projekt teil. Die in Wien gezeigten Stücke wandern auch auf die Bühnen der anderen Partner, die sich danach alle im Herbst treffen, um ihre Erfahrungen auszutauschen.
„Es geht gar nicht anders, als nächstes Jahr wieder weiterzumachen.“ Für Johanna Figl ist klar, dass dieses nun einmal aufgestoßene Erkenntnistor sich so schnell nicht wieder schließen lassen wird und darf. „Denn eigentlich befinden wir uns noch ganz am Anfang der Recherche, in der Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, voneinander jede Menge für ihr eigenes Leben lernen.“
Es steht zu hoffen, dass auch das zuständige EU-Gremium dies so sieht und die Förderung verlängert.