Am Klassenziel im Vorstadt-Exil

Größer kann ein Kontrast zwischen einem 1:0 und einem 1:0 nicht sein. Vor einer Woche noch feierten die Fans des Regionalligisten Hallescher FC im Auswärts-Heimspiel in Leipzig einen jetzt schon historischen 1:0-Sieg gegen den Zweitligaklub Union Berlin. Und nun stehen dieselben Spieler vor einem Viertel des Publikum hier: Das "Stadion am Bildungszentrum" in Halle-Neustadt hat in den drei Jahrzehnten seiner Existenz Höhepunkte wie ein Puhdys-Konzert, mehrere Kreis-Spartakiaden und etliche Spiele des Stadtoberligisten FC Halle-Neustadt erlebt. Wegen des Ausbaus des maroden Kurt-Wabbel-Stadions, in dem der HFC sonst spielt, kommt die ehemalige Chemiearbeiterstadt der DDR nun aber in den Genuss, Viertliga-Fußball behausen zu dürfen.
Dazu wurde die einstige 10000-Mann-Arena mit 2,9 Rettungspaket-Millionen aus-, zurück- und umgebaut. Entstanden ist ein Hexenkessel mit dem Ambiente einer Autobahn-Raststätte, die sich noch im Ausbau befindet. Der Rasen lässt den Ball wunderbar rollen, die Umkleidekabinen sind saniert und einen neuen feuerverzinkten Super-Zaun um das Gelände, vor dem die NVA früher zweimal im Jahr ihre neuen Rekruten einzusammeln pflegte, gibt es auch, dazu sogar einen Sandspielkasten direkt am Spielfeldrand, der aufwendig aus der ehemaligen Sprunggrube hergestellt und von den Kids gleich zur Premiere gut angenommen wurde (danke, j.b.).
Doch der Rest ist ein Fest für alle Freunde von Enge, Weite und perspektivischer Unübersichtlichkeit. Neben der Haupttribüne, die im Ansatz geblieben ist, was sie war, stehen zwei mobile Stahlrohr-Traversen, die den Zuschauern am Rand der Haupttribüne die Sicht auf jeweils eines der Tore verstellen. Aus den ehemals umlaufenden Zuschauertraversen haben die Umbau-Architekten für viel Geld begrünte Hänge gemacht, in die zwei Hochsicherheitskäfige für das gemeine Fußballvolk eingelassen wurden. Fünf Stufen hoch, für mehr haben die Millionen nicht gereicht, steht der Fan sicher hinter Gittern. In der Halbzeitpause wird passend der "Safety Dance" von den Men Without Hats gespielt werden, in dem es heißt "We can go where we want" und "we can dance, we can dance, everything out of control".
Weit entfernt davon. Dieser architektonische Unfall, bei dem völlig unklar bleibt, wofür die gewaltige Bausumme ausgegeben wurde, ist nicht für den Fußball, sondern für die Sicherheit errichtet worden. Eine Strategie, die schon am ersten Spieltag aufgeht: Die Reserve des Bundesligisten FC Energie Cottbus ist zu Gast, der sein Stadion vor sieben Jahren komplett umbaute und dabei nur neun Millionen mehr ausgab, als die Stadt Halle, das Land Sachsen-Anhalt und die Bundesregierung sich das auf ein Jahr angelegte Provisorium haben kosten lassen. Und die selbsternannten "Ultra"-Fans bleiben draußen vor der Tür, weil sie nicht eingesperrt werden wollen.
In der ausladenden Schüssel, malerisch gelegen im einstigen "Bildungszentrum" vor einem zerfallenden früheren Studentenwohnheim und neben einer aufgegebenen ehemaligen Eliteschule namens "Karl Marx", herrscht also zum Auftakt Grabesstille. Die Fans auf der Haupttribüne sitzen 40 Meter vom Spielfeldrand, die Anhänger auf den provisorischen Holztribünen thronen weit über dem geschehen, die Ultras haben sich außerhalb hinter dem Stadionzaun versammelt, der Gästekäfig ist mit einem Dutzend Cottbussern spärlich besetzt.
Auch die hallesche Mannschaft fremdelt mit der neuen Heimspielstätte. Der Spiefluss ist ein Bächlein, der Zufall führt Regie und als Thomas Neubert, der Westernhagen des deutschen Fussballs, in der 19. Minute von links nach innen flankt, schießt Pavel David ein Tor, das nicht in der brütend heißen Luft lag.
Dann ist es wie immer, seit Trainer Sven Köhler in Halle übernommen hat: Das Spiel ist gelaufen und es ist gewonnen, nur die restliche Spielzeit muss noch von der neuen Stadionuhr an der neuen Anzeigetafel.
Aber nichts leichter als das. Cottbus spielt gut mit, die einzige echte Torchance aber macht Christoph Klippel, eine Woche zuvor noch Matchwinner gegen Union, auf der Torlinie zunichte. Halle hat noch eine große Möglichkeit, als Pavel David einen Freistoß an den Pfosten zirkelt. Davon abgesehen aber verplätschert das Bächlein zum Rinnsal, das in der gleisenden Sonne über dem Vorstadt-Exil langsam austrocknet. Einer der Wachleute, die von einem Balkon des Studentenwohnheimes zuschauen, gähnt, der andere geht schließlich doch lieber Streife. Er verpasst nichts, alles bleibt, wie es ist. 1:0, der Klub am Klassenziel, erster Heimsieg zweiten Auswärtsspiel. So kann es weitergehen, rein sportlich gesehen.


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