"am Grab stand eine Frau in weiß..." etwas Mystery aus dem 19. Jahrhundert gefällig?

"When a sensible woman has a serious question put to her, and evades it by a flippant asnwer, it is a sure sign, in ninety-nine cases out of a hundred, that she has something to conceal."
Ich hatte schon Angst, dass ich dieses Jahr meine eigene Challenge verliere, weil ich im frühen Oktober mit gerade einmal acht von 12 zu lesenden Büchern punkten konnte. Und nachdem mich die letzten beiden Bücher die ich für die Challenge gelesen hatte (Alice im Wunderland und The magic Faraway Tree) so garnicht begeistern konnten, war ich etwas vorsichtig im Bezug auf die "Best-loved Novels". Stattdessen wäre ich um ein Haar zum wiederholten Male meiner Schnulzenschwäche erlegen.
Glücklicherweise fügte es sich, dass ich auf einer ewig langen Zugfahrt nur "Gut gegen Nordwind" eingepackt hatte, welches man ja nun wirklich mal eben innerhalb von 2 Stündchen so weglesen kann. Und da ich nun kein Buch aber noch einige Stunden Zug vor mir hatte, riskierte ich einen Blick in meine Kindle App, die zufällig, ganz passend zur Mila'schen Schmonzetten-Stimmung, auch mit "The woman in white" (1860) bestückt war. (Im Amazon Shop lassen sich viele der Bücher auf der Liste kostenlos herunterladen, wusstet ihr das?). Und mit dieser ziemlich typisch englischen Mystery-Geschichte hab ich jetzt auch endlich mal wieder einen Treffer gelandet.
Zur Story:
Der Kunstlehrer Walter Hartright bekommt den Auftrag, auf dem Landanwesen Limmeridge House die beiden Halbschwestern Marian und Laura zu unterrichten. Auf seinem Weg dorthin hat er allerdings eine seltsame Begegnung mit einer vollkommen in weiß gekleideten jungen Frau, die scheinbar aus dem Nichts auf der Landstraße auftaucht. Die offensichtlich verängstigte Frau fasst Vertrauen zu ihm, als sie sein Reiseziel erfährt - scheinbar hat sie in Limmeridge House einen Teil ihrer Kindheit verbracht und liebevolle Erinnerungen an die Familie dort. Kurz bevor sie ihn verlässt, fragt sie ihn nach seiner Bekanntheit mit einem gewissen Lord Percival Glyde, den sie offensichtlich gleichzeitig hasst und fürchtet, von dem er aber noch nie etwas gehört hat. Kurz nach dieser Begegnung erfährt Hartright, dass seine weiß gekleidete Zufallsbekanntschaft einige Zeit zuvor aus einer Irrenanstalt ausgebrochen und seitdem auf der Flucht ist.
Am Ziel seiner Reise angekommen, dauert es nicht lange und Hartright verliebt sich unsterblich in Laura, die jüngere der beiden Schwestern. Da in diesem Fall nicht  nur der große Standesunterschied der beiden ein Problem ist, sondern Laura auch seit Jahren schon einem anderen Mann versprochen ist, wird der Zeichenlehrer aus dem Haus gewiesen. Kurz vor seiner Abreise erfährt er jedoch den Namen des Verlobten seiner Angebeteten: Laura wird Sir Percival Glyde heiraten, den Mann vor dem die "Frau in weiß" so panische Angst hatte. Und nicht nur das - je mehr Walter darüber nachdenkt, desto klarer wird ihm außerdem, dass seine nächtliche Zufallsbekanntschaft und seine angebetete Laura sich verblüffend ähnlich sehen...
Meine Meinung:
Ich würde sagen, wer "Rebecca" mochte, der wird auch Spaß an "The Woman in white" haben. Mit seinen Romantik-, Mystery- und Krimi-Elementen ist Wilkie Collins Roman eine runde Mischung und lässt sich, trotz seiner knapp 600 Seiten flüssig lesen. Während in der ersten Hälfte des Buches die Spannung wirklich auch konstant auf einem sehr hohen Niveau ist, gibt es im hinteren Teil allerdings meiner Meinung nach einige Längen. Außerdem hatte ich so meine Probleme nachzuvollziehen, warum Walther Hartright sich denn da nun so unsterblich in Laura verliebt hat, die neben ihrer immer wieder erwähnten "milden Natur" dem Leser nicht wirklich viel zu bieten hat. Allerdings sind wir hier ja erstens im viktorianischen Zeitalter unterwegs, wo Frauen sich gefälligst sowieso im Hintergrund zu halten haben und außerdem bildet die Liebesgeschichte zwischen den beiden auch eher den Rahmen für die Story, in der Walters detektivische Ermittlungen noch überraschend tiefschürfende Erkenntnisse bringen werden.
Die Story lebt von ihren faszinierenden Nebencharakteren: Auftritt Marian und Count Fosco
Die Geschichte ist wirklich gut gestrickt, denn entgegen meiner Erwartung hat mich die Auflösung am Ende nicht enttäuscht (ich war mir zur Mitte des Buches hin ziemlich sicher, dass ich die ganze Story schon erraten habe und war schon mal vorsorglich enttäuscht von meiner angenommenen Einfachheit des Ausgangs. Ich hatte mich dann aber doch getäuscht und es kamen noch ein paar nette Wendungen und Plot Twists). Was das Buch jedoch für mich so fesselnd macht, ist weder sein Verlauf, noch sind es die vordergründigen Hauptfiguren, denn weder Walther noch Laura, noch Lauras undurchsichtiger Verlobter sind besonders komplex. Stattdessen haben mich die Nebenfiguren, nämlich Lauras Schwester Marian und der etwas später in der Geschichte auftauchende Count Fosco schwer fasziniert. Und natürlich die "Woman in White", aber über die verliere ich lieber nicht zu viele Worte, es soll ja schön mysteriös bleiben.
Mit Count Fosco hat Wilkie Collins einen Charakter geschaffen, den der Leser nicht mehr so schnell aus dem Kopf kriegt. Höflich, liebenswürdig und allem Anschein nach die gefährlichste Person im Buch - wenn Count Fosco erscheint, dann sind sogar die unberechenbarsten, wutschäumenden Hunde nichts als zahme Haustiere. Dieser Charakter ist so vielschichtig, dass auch nach der letzten Seite bei weitem nicht alle Geheimnisse um ihn geklärt sind. Marian dagegen ist eine ganz andere Geschichte, auf ihre Art aber nicht weniger erinnerungswürdig.
"The lady is dark. The lady is young. The lady is UGLY!"
Mit dieser (gekürzten) Einleitung wird uns Lauras Schwester charmanterweise von Walter Hartright vorgestellt. Marian, bei all ihrer Offenheit, ihrer Herzlichkeit und Intelligenz, fehlt es in ihrer Ausstrahlung an der "Geschmeidigkeit und Sanftmut" ohne die "the beauty of the handsomest woman alive is beauty incomplete." Diese Zeilen sagen ja schon eine Menge über das Frauenbild zur damaligen Zeit aus und im Laufe des Buches wird dieses Frauenbild auch immer wieder von Marian selbst unterstützt. Zwar ist sie der pfiffigste Charakter von allen, relativiert das aber immer wieder, indem sie Sätze sagt, in denen "Ich bin ja nur eine Frau" vorkommt. 
"You see I don't think much of my own sex, Mr. Hartright. No woman does think much of her own sex, although few of them confess it as freely as I do."
Das ist schon ein ziemlich krasses Statement dafür, dass das Buch von einem Mann geschrieben wurde, der ihr diese Sätze in den Mund legt. Alles in allem wäre es dem Charakter nach für mich wesentlich nachvollziehbarer, wenn sich Walter Hartright in Marian statt in ihre liebliche aber für den Handlungsverlauf eher nutzlose Schwester Laura verliebt hätte. Da Marian aber nicht nur mittellos, sondern ausdrücklich auch vom Hals aufwärts grottenhässlich ist - ihr Körper ist der Beschreibung nach wohl ziemlich bombastisch, aber das wiegt ihren "Schnurrbart" ("the dark down on her upper lip was almost a moustache") wohl nur unzureichend wieder auf - wird automatisch davon ausgegangen, dass sie für den Rest ihres Lebens eine alte Jungfer bleiben wird. Das Marian selbst mit diesem Leben aber vollkommen zufrieden sein soll und das einzige was im Leben zählt für sie das Wohl ihrer hübschen Schwester ist, die sie ja so heiß und innig liebt - das nehme ich dem Autor nicht so ganz ab. Ist aber auch Wurscht, das Buch bietet genug Geheimnisse und Verstrickungen, subtilen Grusel und Stress-Momente um auch den heutigen Leser bei Laune zu halten. 
Fazit:
Runde Geschichte aus der viktorianischen Epoche, die auch jetzt noch begeistern kann. Ein überzeugnender Plot mit einigen psychologisch auffälligen Charakteren, die in Erinnerung bleiben und gut gestrickten Wendungen. Dunkle und dichte Atmosphäre und Geheimnisse, die sich auch nach dem Lesen nicht ganz auflösen - so wie sich das für eine Mystery Geschichte gehört! Zur zweiten Hälfte wird es ab und zu etwas langatmig, vor allem die Stelle in der Lauras unsäglicher Onkel seinen Teil zur Erzählung beiträgt, die hätte ich vor lauter Ungeduld fast übersprungen und es reicht wirklich, sie zu überfliegen. Ansonsten aber defintiv empfehlenswert. Genau das richtige für einen stürmischen Herbstabend im Kerzenlicht. 
Ps: Das Buch wurde 1948 verfilmt, wobei der Regisseur wohl nicht nur das Ende geändert, sondern laut dieser ziemlich guten Filmbesprechung den Fakt, dass Marian hässlich sein soll, auch als unwichtig abgetan und einfach ignoriert hat. Gut zu wissen, denn ich hatte mich beim Bilder googlen doch auch schon sehr gewundert, Alexis Smith in der Rolle zu finden. 

The woman in white, 1948, Verfilmung mit Alexis Smith




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