„Am Anfang gab es keine zusammenhängende Erzählung.“ – Peter Neumaier erinnert an den Münchner Rechtsanwalt Ernst Seidenberger

Von Juedischesmuseum

In seinem Buch „Wehe dem, der allein ist!“ rekonstruiert Peter Neumaier die Geschichte seines Großvaters Ernst Seidenberger, der als Münchner Rechtsanwalt mit jüdischer Herkunft von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und gibt dabei faszinierende Einblicke in die Dynamik familiären Erinnerns. Im Juli stellte er sein Buch im NS-Dokumentationszentrum vor.   

Als Kind fand Peter Neumaier unter den Briefmarken, die sein Großvater Ernst Seidenberger gesammelt hatte, mehrere Marken mit der Aufschrift „Theresienstadt“. Seine neugierige Frage, wo dieser Ort liege, beantworteten die Erwachsenen ausweichend. Die Briefmarken stammten von Briefen, die Ernst Seidenberger, nachdem ihm im Oktober 1938 die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen worden war, als Konsulent erhalten hatte. Im Januar 1945 wurde Ernst Seidenberger selbst in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. In welchem Ausmaß der Großvater auf Grund seiner jüdischen Herkunft von den Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten betroffen war, wurde in Peter Neumaiers Familie lange beschwiegen.

Ernst Seidenberger, Münchner Rechtsanwalt in der NS-Zeit

Ausgangspunkt für Peter Neumaiers Annäherung an die Geschichte seines Großvaters waren zwei Briefe, die Ernst Seidenberger 1936 und 1939 an seine Töchter geschrieben hatte. In ihnen schildert Seidenberger die Machtübergabe an die Nationalsozialisten als einen „tragischen Bruch, der durch [sein] Leben geht“. (Neumaier, S. 300) Seidenberger wurde 1877 in Nürnberg geboren. Er stammte aus dem bildungsbewussten jüdischen Bürgertum, besuchte ein humanistisches Gymnasium und studierte Jura. 1903 zog er nach München. Neumaier beschreibt, wie sein Großvater alle Brücken zu seiner jüdischen Herkunft abbrach und zunächst die protestantische Clara Ehrhart heiratete, später selbst zum Katholizismus konvertierte. Im Ersten Weltkrieg meldete sich Seidenberger freiwillig an die Front.

Durch seinen Status als „ehemaliger Frontkämpfer“ und durch die Ehe mit seiner nichtjüdischen Frau und die beiden protestantischen Töchter war er vorübergehend vor Deportationen geschützt, da er in einer, wie es im Nazijargon hieß, „privilegierten Mischehe“ lebte. Der schrittweisen Ausgrenzung aus dem Beruf und aus dem sozialen Leben entging er nicht. Mit dem Ausschluss von als Juden Verfolgter aus dem Anwaltsverband verlor Seidenberger bereits ab 1933 den Kontakt zu seinen Kollegen. Im Oktober 1938 wurde ihm seine Zulassung als Rechtsanwalt entzogen, den Justizpalast durfte er nicht mehr betreten.

Peter Neumaier geht in seinem Buch immer wieder auf die schwindenden Handlungsmöglichkeiten seines Großvaters ein. Zunächst konnte Ernst Seidenberger noch als Konsulent für jüdische Mandanten und Mandantinnen arbeiten, seine wirtschaftliche Lage verschlechterte sich jedoch weiter als der Zugriff auf sein Konto gesperrt wurde. Ab 1942 musste der nunmehr 65-Jährige zusätzlich zu seiner Konsulententätigkeit nachts Zwangsarbeit in einem Münchner Rüstungsbetrieb leisten, im Januar 1945 wurde Ernst Seidenberger schließlich nach Theresienstadt deportiert, wo er auf einen kleinen Zettel notiert: „Wehe dem, der alleine ist!“ Das Bibelzitat, das sein Großvater sich in Erinnerung rief, als die Situation für ihn am ausweglosesten schien, wählte Peter Neumaier als Titel seines Buches. Er begreift die Verfolgungsgeschichte Ernst Seidenbergers als die zunehmende Vereinsamung eines Verfolgten.

„Meine Mutter hätte dieses Buch vielleicht nicht gewollt.“

Neumaiers Mutter Inge, die die Verfolgung ihres Vaters als Jugendliche hatte miterleben müssen, schwieg zeitlebens über dessen jüdische Herkunft. Sie und ihre Schwester hatten nach den rassistischen Gesetzen der Nationalsozialisten als sogenannte “Halbjüdinnen“ gegolten. In der Schule wurde Inge deswegen ausgegrenzt. Jahrzehnte später, erinnert sich der Autor, verfiel sie noch immer in einen Flüsterton, wenn sie über diese Zeit sprach – die Nachbarn sollten nicht erfahren, dass sie jüdische Vorfahren hatte.

Im Eingangskapitel schreibt Neumaier, dass ihn die Einstellung seiner Mutter als Jugendlicher fassungslos gemacht habe. In späteren Jahren habe er dennoch das Gespräch mit ihr gesucht. In seinem Buch gelingt es Neumaier, Inges Perspektive nachzuvollziehen. Dennoch, vermutet er im Rahmen der Buchvorstellung im NS-Dokumentationszentrum, hätte seine vor einigen Jahren verstorbene Mutter dieses Buch nicht gewollt.

Erst die umfangreiche historische Quellenarbeit ermöglichte es dem Autor, die bruchstückhaften Familienerinnerungen zusammenzufügen. Das Buch habe er zunächst nur für die eigene Familie schreiben wollen, denn eine zusammenhängende Erzählung über das Leben seines Großvaters habe es davor nicht gegeben. Entstanden ist ein eindrucksvolles und bewegendes Dokument, das Ernst Seidenbergers Leben und dessen zeitgeschichtlichen Kontext auch für ein breites Publikum fassbar macht.

„Wehe dem, der allein ist!“ Mein Großvater Ernst Seidenberger. Münchner Rechtsanwalt in der NS-Zeit ist 2018 im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen.