Alternative Lebens- und Liebesweisen im Fokus: „Polyamory“

Von Nicsbloghaus @_nbh

In Deutschland beken­nen sich, z.B. in Facebook-Profilen, immer mehr Menschen dazu, „in offe­ner Beziehung“ zu leben. Den Begriff „Polyamory“ (oder auch „Polyamorie“) ver­wen­den aber nur wenige die­ser Menschen in der Alltagskommunikation. Wissenschaftliche und popu­lär­wis­sen­schaft­li­che Arbeiten benut­zen statt­des­sen „Polyamory“ und erfas­sen dar­un­ter auch die „offene Beziehung“.

Der Begriff der Polyamory tauchte zuerst in den USA auf, in den 1960er Jahren. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird er auch in Deutschland in zuneh­men­dem Maße dis­ku­tiert. Polyamory „steht für ein Beziehungsgeflecht, in dem meh­rere Liebesbeziehungen ver­ant­wort­lich, ehr­lich und offen und ver­bind­lich gleich­zei­tig ent­wi­ckelt und gelebt wer­den.” Ein frü­hes Stichwort für diese Lebens- und Liebesweise war „Freie Liebe”.

Thomas Schroedter und Christina Vetter gehen in ihrer Arbeit („Polyamory – Eine Erinnerung) vor allem der Frage nach, auf wel­chem Konzept bzw. wel­chen Konzepten von „Liebe” Beziehungsform auf­baut.

Sie begin­nen mit “Verunsicherungen”, denn es gibt ja nicht nur unzäh­lige Definitionen der Liebe. Aber auch für die Polyamory gibt es keine ein­deu­tige Begriffsbestimmung. Sie scheuen auch nicht vor der Frage zurück, wie ver­schie­dene Formen von Liebe in Europa (und den USA) ent­wi­ckelt wor­den sind bzw. sich ent­wi­ckelt haben. Liebesbeziehungen außer­halb des europäischen/US-amerikanischen Kulturraumes wer­den nur kurz gestreift.

Neben Definitionen und „Normierungen” wer­den die Werte und Grundsätze von Polyamory unter­sucht. Dabei las­sen die Autoren so bedeut­same Fragen, wie Eifersucht, gemein­same Kinder, Elternschaft(en) nicht außer Acht.

Sie kon­sta­tie­ren, daß auch Polyamory in sehr unter­schied­li­chen Konstellationen und Formen gelebt wird. Hervorzuheben sind ihre Feststellungen: „In ihrem Selbstverständnis grenzt sich die polyamo­röse Bewegung von der herr­schen­den Kultur ab, die auf einem inof­fi­zi­el­len Bekenntnis zur Monogamie und einer insti­tu­tio­na­li­sier­ten Praxis der Untreue beruht.” (S. 71) und „dass Polyamory eine effek­tive und revo­lu­tio­näre Beziehungswahl für jeden sein kann, wäh­rend sie sich gleich­zei­tig auf einen bestimm­ten Personentyp in der US-amerikanischen Kultur fokus­siert, näm­lich ein Individuum, das ‚euro­päi­scher‘ Abstammung ist, Mittelklasse, gebil­det durch College und (…) wahr­schein­lich auch kör­per­lich gesund.” (S.72)

Diese Feststellung dürfte sinn­ge­mä­ßig auch für Deutschland zutref­fen: Polyamory wird über­wie­gend von hoch­ge­bil­de­ten und krea­tiv täti­gen Menschen in gesi­cher­ter sozialer/finanzieller Position gelebt.

Obwohl es in dem Buch eigent­lich um die Polyamory geht, so stellt für den Rezensenten das Kapitel 5 („Und wie war‘s? Geschichtliche Entwicklung und Mono-Normativität”) den wohl bedeut­sams­ten Teil die­ser Arbeit dar.

Hier wer­den die Zusammenhänge zwi­schen Liebe, Sexualität, zwi­schen­mensch­li­chen Beziehungen und den Produktionsverhältnissen, sozio­öko­no­mi­schen und poli­ti­schen (Herrschafts-)Verhältnisse her­aus­ge­ar­bei­tet, und auch wel­che Rolle hier­bei Religionen gespielt haben und noch spie­len. Zum Dreieck von Arbeitsteilung, Sexualität und Liebe heißt es: „Im Christentum wird diese Beziehungreligiös auf­ge­la­den und in der Moderne als säku­la­ri­sierte Ehe zu einem wesent­li­chen Bestandteil dis­kur­si­ver Herrschaft.” (S. 76)

Mit „Alles begann in Babylon” beginnt der recht ein­ge­hende his­to­ri­sche Über­blick für den vorderasiatisch-mediterranen-europäischen Kulturraum. Dieser setzt sich fort über die dif­fe­ren­zier­ten Verhältnisse in der grie­chi­schen und römi­schen Antike.

Gar treff­lich ist die­ser Abschnitt über­schrie­ben: „Die mit­tel­al­ter­li­che Zurichtung des Menschen”. Hier wird auch mit der Alltagsauffassung auf­ge­räumt, daß schon alles immer so war… U.a. heißt es da: „Wesentlich war dar­über hin­aus, daß die Ehe als Sakrament die Trauung aus dem Familienkreis in die Kirche ver­legte und der Segen des Priesters obli­ga­to­risch wurde. Dieser Prozeß zog sich vom Hochmittelalter bis ins 17. Jahrhundert hin. (…) Es dau­erte aller­dings noch ein­hun­dert Jahre [bis etwa um 1660; SRK], bis die Eheschließungszeremonie im gesam­ten Einflußgebiet der katho­li­schen Kirche aus dem pri­vat­recht­li­chen Bereich in die Öffent­lich­keit der Kirche ver­la­gert wurde.” (S.91)

Und „damit wird zu Beginn der Neuzeit ein Über­wa­chungs­in­stru­ment geschaf­fen (…) Die Kirche schrieb nicht nur die Unauflöslichkeit der Ehe vor, son­dern regle­men­tierte das Eheleben bis hin zur Festlegung der zu prak­ti­zie­ren­den Sexualität.” (S. 92)

Beleuchtet wer­den eben­falls die „Minne” und die Galanterie” und sehr aus­sa­ge­kräf­tig die Bedeutung von „Aufklärung und Romantik” für die bür­ger­li­che Ehe, wie wir sie hier­zu­lande (BGB-mäßig) ken­nen.

Aber auch erste Gegenentwürfe von Frühsozialisten im 19. Jahrhundert bzw. unmit­tel­bar nach der rus­si­schen Revolution von 1917 wer­den vor­ge­stellt. Und wie es dazu kom­men konnte, daß nach 1945 im west­li­chen Teil Deutschlands „christ­li­che” Moralvorstellungen wie­der­er­star­ken konn­ten.

Und „Was wird die Zukunft brin­gen? – Schöne Aussichten?” – so ist das Schlußkapitel über­schrie­ben. Statt einer rosa­ro­ten Utopie resü­mie­ren Schroedter/Vetter u.a.: „So kom­men wir in Sachen Liebe wie­der zu dem Gefühl, bei dem sich die sechs Stile der Liebe ent­fal­ten kön­nen, ohne dem Anderen ein Hindernis zu wer­den. Aufgabe einer sol­chen Optimierung wäre die Entwicklung einer Kultur des Neben- und Miteinanders ver­schie­de­ner Formen der Liebes- und Lebensformen jen­seits von Zwang und kom­mer­zi­el­ler Vereinnahmung.” (S. 154)

Diese Schrift ver­dient m.E. eine grö­ßere Aufmerksamkeit gerade in huma­nis­ti­schen und frei­geis­ti­gen Organisationen. Denn zu einem geleb­ten Humanismus – frei von reli­giö­sen Dogmen und frei von Herrschaft des Menschen über den Menschen – gehö­ren nicht nur freies Denken, son­dern auch freie Lebensformen (und damit untrenn­bar ver­bun­den freie Liebesformen).

Schwachpunkt des Buches und immer wie­der Ärger­nis beim Lesen ist die darin durch­gän­gige Sprachverhunzung / Verhunzung der Schriftsprache durch „poli­tisch kor­rekte” und „gen­dere” Schreibweisen.

Ergänzung fin­det das „Polyamory”-Buch durch die Arbeit von Imre Hofmann und Dominique Zimmermann „Die andere Beziehung”. Hierin geht es um „Philosophische Praxis”, daher reflek­tie­ren beide nam­hafte phi­lo­so­phi­sche und sozio­lo­gi­sche Theoretiker der Gegenwart: Ob und unter wel­chen Bedingungen ver­schie­dene Formen von Liebesbeziehungen denk­bar und auch rea­li­sier­bar seien.

Ausgehend von der Frage „Wozu sol­len wir über alter­na­tive Beziehungsformen nach­den­ken?” geht es kon­kret um sol­che Themen „Wenn [her­kömm­li­che; SRK] Beziehungsideale an der Realität schei­tern”; „Das Maß der Liebe” und „Sexuelle Spielarten” (darin auch der Zusammenhang von Sexualität und Macht). Die Autoren ent­wer­fen abschlie­ßend eine „Skizze einer uni­ver­sel­len Beziehungsethik” auf der Grundlage des Humanismus und laden vor allem zum „Weiterdenken” ein. Denn unsere sich schnell und ste­tig wan­delnde Gesellschaft werfe immer wie­der neue Frage zur Beziehungsführung zwi­schen Individuen auf.

Thomas Schroedter / Christina Vetter: Polyamory – Eine Erinnerung. 168 S. brosch. Reihe theo­rie org. im Schmetterling-Verlag. Stuttgart 2010. 10,00 Euro. ISBN 3-89657-659-3

Imre Hofmann / Dominique Zimmermann: Die andere Beziehung – Polyamorie und Philosophische Praxis. 156 S. brosch. Schmetterling-Verlag. Stuttgart 2012. 12,80 Euro. ISBN 3-89657-064-1

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]