Bereits ein Blick in heutige Wohnungen und Kleiderschränke offenbart ein seit mehreren Jahren anhaltendes Phänomen. Die Retro-Vintage-Welle schwappt in beständigem Rhythmus über unser vermeintlich modernes, fortschrittliches Leben. Denn obwohl die Technik noch nie so weit entwickelt war wie heute, das Internet das Tor zur Welt und ihren unzähligen Möglichkeiten ist, und wir in Sekundenschnelle unser Abendessen bestellen können, zelebrieren wir gleichzeitig Langsamkeit, Muße und Tradition: Mit Hingabe wird versucht, Omas heißgeliebten Apfelkuchen zu backen, der damals im Garten so gut schmeckte. Flohmärkte werden nach antiken Telefontischchen aus den 30er Jahren abgegrast, um die individuelle Wohnungseinrichtung zu komplettieren. Und wir werden nicht müde, uns zum x-ten Mal bei Pralinen und Prosecco „Frühstück bei Tiffany“ anzuschauen, und von Audrey Hepburns anmutender Grazie und liebevoller Zerstreutheit zu schwärmen, die wir uns selbst in hektischen Jobs, straffen Terminplänen und Pflichtenkorsetts gar nicht mehr erlauben können. Doch was genau ist es, das die Vergangenheit so reizvoll erscheinen lässt?
Eine Erklärung mögen die zunehmende Schnelligkeit und der hohe Technisierungsgrad des Alltags sein, denen die moderne Leistungsgesellschaft heutzutage ausgesetzt ist. Immer mehr Menschen fühlen sich überfordert, gestresst und orientierungslos und sehnen sich nach mehr Stabilität und Geborgenheit in ihrem Leben. So erscheinen die Kindheit sowie vergangene Jahrzehnte – als noch Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben war, und man sich in seinen Träumen und Gefühlen verlieren konnte – als Idealbild einer bewussteren Lebensführung. Mit der Rückbesinnung auf traditionelle Werte wächst auch die Bewunderung des Alten, des Echten, des Selbstgemachten. Handarbeit, Regionales, Charakter und Patina bedeuten wieder etwas und avancieren allmählich zum Inbegriff für Schönheit und Sinnlichkeit. Nach Beispielen aus der Praxis muss man nicht lange suchen: Die explodierende Auflage des Magazins Landlust verbunden mit der Neuentdeckung unserer beschaulichen Heimat Deutschland, die Wiederentdeckung des Selberkochens zelebriert durch den Concept-Food-Store Kochhaus oder die Verarbeitung der von Gezeiten und Muscheln gezeichneten Eichenpfähle aus Venedig des Naturholzmöbelherstellers TEAM 7 sind symptomatisch für den Trend zur Tradition.
Parallel zum gesteigerten Bewusstsein für das Echte entwickelt sich auch eine Tendenz weg von der gewissenlosen Wegwerfmentalität hin zu nachhaltigem Konsum. Wir achten auf hochwertige und langlebige Materialien, ökologisch verträgliche Produkte sowie faire Produktionsbedingungen. Ein positiver Nebeneffekt: Hohe Qualität und eine längere Lebensdauer erlauben es, eine emotionale Bindung zum Produkt aufzubauen und es als Teil unseres Lebens und als Speicher von Erinnerungen mit uns zu führen. Die Konsequenz ist, dass wir auch wieder gerne bereit sind, alte Stücke, die uns an Herz gewachsen sind, aufzuarbeiten, als sie durch neue zu ersetzen. Die steigende Nachfrage nach derartigen Aufarbeitungs- oder Restaurierungsdiensten wird durch den Erfolg des Münchner Cashmere-Labels Allude und deren Cashmere Clinic bestätigt. Hier können Besitzer ihre geliebten, doch etwas abgelebten Cashmere Schätze in fachmännische Hände geben. Dank spezieller Pflegeprodukte, traditioneller Kunststopftechnik und sorgfältigem Entpillen erstrahlen Schals, Pullover oder Decken wieder in neuem Glanz. So einfach wird aus Alt wieder Gewohnt.
Und das ist wohl auch die Quintessenz dieser Entwicklung. Oft fühlen wir uns heute durch den andauernden Wandel, das immer wieder Neue und Ungewohnte überfordert. Trends und Moden kommen und gehen, wir treffen fast jeden Tag neue Menschen, und das Smartphone, das wir uns erst letzten Monat gekauft haben, ist morgen schon wieder überholt. In diesen unsteten Zeiten sehen wir uns schlichtweg nach dem Gewohnten, nach dem, was schon immer war. Ob das nun anrührende Schwarz-Weiß-Filme aus den 60ern, himmlisch nach Heimat duftendes Gebäck, oder vererbte Möbel samt ihrer Kerben und Macken sind – jeder von uns pflegt ein Stück Vergangenheit. Einfach, weil es uns auf hoher See namens Lebens Halt und Sicherheit gibt.
Fotos: TEAM 7