Ihr Lieben,
meine heutigen Tagebuchnotizen stehen unter dem Thema:
„Als Werner Olympiasieger im 100-Meter-Lauf werden wollte“
In meinem Kinderzimmer hütete ich in einem alten, abgegriffenen Schuhkarton unter meinem Bett einen kleinen besonderen Schatz, eine Schelllackplatte mit der deutschen Nationalhymne, gespielt von einem Bundeswehrorchester.
Diese Schallplatte hatte ich mir von meinem ersparten Geld gekauft.
Oft, wenn ich nachmittags allein zuhause war, schlich ich mich heimlich zu unserem Plattenspieler im Wohnzimmer, was mir eigentlich streng untersagt war. Ich legte die Platte auf, schloss die Augen und lauschte der Musik.
Ich sah mich vor meinem inneren Auge in einem großen Olympiastadion, ich sah die vielen tausend Zuschauer aus aller Herren Länder und mittendrin war ich selber, ein kleiner Leichtathlet, ein ehrgeiziger 100-Meter-Läufer und tosender Beifall umspülte mich, als ich den 100-Meter-Endlauf gewann und Olympiasieger wurde.
Ich versuchte gegen alle Wirklichkeit, gegen allen Anschein meinen Traum zu leben, zu verwirklichen, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen.
Es kann gut sein, dass ich diesen Traum träumte, um meiner grauenhaften Wirklichkeit, die durch Gewalterfahrungen, sexuellen Missbrauch und Demütigungen geprägt war, zu entfliehen.
Mein großes, persönliches Vorbild war Armin Hary, der erste Mensch, der die 100 Meter in 10,0 Sekunden lief, Weltrekord! 1960 in Rom gewann Armin Hary das olympische Finale. Armin Hary ist auch der einzige Mensch, von dem ich ein Autogramm, ein persönlich geschriebenes besitze.
Ich versuchte, durch besonders eifriges, ja fast tägliches, aber immer stundenlanges Training meinem großen Vorbild nachzueifern.
Meine Mutter hatte keinerlei Verständnis für mein intensives Training :
„Mach dich doch nicht lächerlich, guck dich doch mal an, du dünnes, armseliges Etwas! Du willst im Laufen gegen andere gewinnen, da lachen ja die Hühner!“
Ein Teppichhändler, bei dem meine Mutter mehrere Perserteppiche gekauft hatte, hatte einen „Narren an mir gefressen“, wie man so sagt.
Als er mitbekam, wie intensiv ich trainierte, spendierte er mir gegen den Willen meiner Mutter ein Paar Spikesschuhe von Adidas und einen eigenen kleinen Startblock. Nun trainierte ich noch intensiver, ja fast wie besessen. Für mein Alter von fast 13 Jahren war ich recht gut.
In der Bildzeitung las ich eines Tages, dass der Erfolg von Armin Hary zum Teil auch darauf beruhe, dass er jeden Tag heiße Milch mit Honig trinken würde.
Ich hasste heiße Milch, ich hasste Honig, aber mit Todesverachtung trank ich nun fast jeden Tag ein Glas heiße Milch mit Honig.
Ich konnte allerdings keine leistungsfördernde Wirkung feststellen, eher im Gegenteil, mein Magen streikte recht bald auf Grund der ungewohnten heißen Milch und des vielen süßen Honigs. Etliche Male aber vergaß ich, dass ich Milch auf den Herd gestellt hatte, um diese zu erhitzen.
Ein fürchterlicher Gestank von verbrannter Milch zog dann durch unser Haus und führte zu wüsten Beschimpfungen durch meine Mutter und zu sehr harten Prügelstrafen, sodass ich tagelang auf dem Bauch schlafen musste.
Endlich erfüllte sich mein Traum, wenn auch nicht ganz so, wie von mir gewünscht. In Bremen gab es früher die Tradition, dass jede Bremer Schule ein eigenes Schul-sportfest im Sommer durchführte.
Aufgrund der Ergebnisse dieser einzelnen Schulsport-Feste wurde immer in der ersten Woche nach den Sommerferien im Bremer Weserstadion ein Gesamtschulsportfest durchgeführt.
Auf diesem Sportfest, bei dem alle Bremer Schüler Anwesenheitspflicht hatten, liefen die besten Staffeln der einzelnen Bremer Schulen gegeneinander.
So gab es Staffeln über 10 x 50 Meter, 10 x 75 Meter, 10 x 100 Meter und 20 x 200 Meter. Der Höhepunkt dieses großen Schulsportfestes vor mehr als 40.000 Schülern (!), die einen Höllenlärm veranstalteten, waren die Läufe der besten Bremer Schüler über 50 Meter, 75 Meter und 100 Meter gegeneinander.
Aufgrund meiner Leistungen auf dem Sportfest unseres Gymnasiums hätte ich als fast 13-jähriger niemals die Chance bekommen, an einem solchen Endlauf über 75 Meter teilzunehmen.
Zu dieser Zeit befand ich mich in der Schulklasse, von der ich Euch schon des Öfteren erzählt habe und in der ich ständiger Gewalt und permanenter Demütigung ausgesetzt war.
Als eine besondere Variante der Demütigung meiner Person sorgte diese Klasse dafür, dass alle 75-Meter-Läufer, die dafür infrage kamen, unsere Schule zu vertreten, auf ihren Start verzichteten und ich zum Zuge kam.
Meine Klasse erwartete, dass ich mich unsterblich blamieren würde, und empfand klammheimliche Freude darüber, wie die Zuschauer mich durch ihr Gejohle und ihren Spott demütigen würden.
Aber manchmal entwickeln sich die Dinge ganz anders als geplant.
Es war, als hätten die anwesenden 40.000 Schüler gespürt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging, jedenfalls begriffen die Zuschauer, dass, wenn einer Unter-stützung und Anfeuerung benötigte, das meine Person war.
Und so schwenkten die Zuschauer mehrheitlich in mein „Lager“ über und feuerten mich bereits vor dem Start lautstark an. Zum Sieg langte es natürlich nicht, ich wurde nicht einmal Zweiter, sondern belegte nur den achten und den letzten Platz.
Aber das war mir egal, denn ich bekam einen Großteil der lautstarken Anfeuerung und des frenetischen Beifalls der Zuschauer zu spüren, weil sie meine Leistung als mit Abstand kleinster Läufer anerkannten.
Der Sieger wurde nicht bejubelt, sondern ich wurde von den Zuschauern zu einer Ehrenrunde aufgefordert.
Die Klasse aber fühlte sich dadurch durch mich um ihren Spaß betrogen und rächte sich dafür an mir auf fürchterliche Weise, aber davon mehr in meinem Buch DAS ESELSKIND.
Mit herzlichen Grüßen
Euer fröhlicher Werner
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt.