Als ich geboren wurde lag so viel Schnee, dass es schwer war, meine Mutter zum Krankenhaus zu bringen. Es war ein Tag vor Weiberfastnacht, und in den kommenden Tagen sollte die Schneekatastrophe noch schlimmer werden. Außerdem war ich 66 Tage zu früh dran, und es war keineswegs sicher, dass ich überleben würde. Jetzt bin ich 50, und ich lebe immer noch.
Als ich geboren wurde regierte die große Koalition, eine rechtsradikale Partei war in einige Landtage eingezogen, Unmut machte sich auch über Gastarbeiter breit. Andererseits: Wir lebten im kalten Krieg, durch Deutschland und die Welt ging eine materielle und geistige Mauer, Familien waren getrennt, die Mächte und Staaten beäugten sich misstrauisch. – Und doch war in all dem etwas von Stabilität.
Als ich geboren wurde waren die Menschen noch nicht auf dem Mond gelandet, doch sie hatten ihn soeben umflogen und die Weihnachtsgeschichte gelesen. Es gab noch kein Internet, keine Mail und kaum Computer, und wenn, dann passten sie nur knapp in ein einziges Zimmer. Brötchen kosteten 10 Pfennige, das Fernsehen hatte nur zwei bis gerade mal drei Programme, und über das Klima machte sich nur der Club of Rome sorgen, so nebenbei, wenn er über die Grenzen des Wachstums spekulierte.
Als ich geboren wurde waren Hans-Joachim Kulenkampf, Hans Rosenthal, Peter Alexander und so gerade eben Dieter Thomas Heck die Helden der Nation. Youtube, Netflix, iFones und Facebook konnte man sich nicht einmal vorstellen, selbst in Science-Fiction-Geschichten sah die Zukunft meist anders aus.
Als ich geboren wurde lebten wir in einer Stadtrandsiedlung ohne heißes Wasser und Kanalisation. Zum Klo gingen wir im stinkenden, zugigen, schlecht gemauerten Häuschen über der Sickergrube, wir wuschen uns in kaltem Wasser, und einmal in der Woche badeten wir zuerst in einer Zink-, dann in einer Plastikwanne mit Wasser, das auf dem Herd erhitzt worden war. Bis die nächste Fuhre kam, war das vorherige Wasser schon wieder kalt. – Wie hieß es so schön in einer Büttenrede aus jener Zeit: “In einem einzigen Kump wusch de Mama Gemüse, de Wäsche, de Kinder und dem Papa de Füße.” Wir lebten zu fünft auf drei Zimmern, und zwar ohne zusätzliche Küche und Bad. Mein Vater, mein Bruder und meine Mutter machten Messer. Sie fuhren in meines Vaters VW zur Arbeit und lieferten damit auch die Messer aus. Morgens um halb vier fuhren sie los, abends um halb acht kamen sie zurück. Dann brachten sie oft Messer mit, die sie mit Kitt und Verdünnung noch bearbeiteten, um die Bohrlöcher für die Nieten und Nägel zu schließen, mit denen die Hefte oder Schalen auf die Klingen genagelt worden waren. Ich blieb meistens bei meiner Oma im Nebenhaus, bis meine Schwester nachmittags von der Schule kam, sie kümmerte sich dann um mich, bis meine Eltern kamen. Sie arbeiteten Samstags und Sonntags, und manchmal, wenn sie Sonntags eine Ausnahme machen konnten, saßen wir beim Frühstück und verzehrten wunderbaren, herrlich lockeren und süßen Stuten oder Semmel, wie wir sagten, gesüßtes Weißbrot eben, gekauft in unserer Stammbäckerei oben an der Straße, gerade außerhalb unserer kleinen Siedlungswelt. Es gab keine Bürgersteige bei uns, und wir Kinder spielten auf der Straße, es fuhr ja praktisch nur Anliegerverkehr. Wir kannten uns alle in der Siedlung, heute kenne ich nicht einmal die Mitbewohner in unserem Haus. Als ich geboren wurde, fuhren wir gemütlich mit dem Oberleitungsbus in die Stadt, traf man sich Freitags in der Kegelbahn zum Kegeln und Plauschen, ging man Sonntags stundenlang im Wald zwischen Müngsten und Burg spazieren. Im Sommer grillten wir hinter dem Haus, im Winter pflanzte mein Vater Jahr für Jahr nach den Festtagen einen neuen Weihnachtsbaum in unseren Garten. Die Welt bewegte sich mit unendlicher Langsamkeit, und das größte Ereignis des Jahres war die Kirmes unseres Heimatvereins, die einmal im Jahr stattfand, und an der alle mithalfen.
Als ich geboren wurde hatte man Sorgen wegen der Arbeit, wusste man nicht, ob man genug zu Essen haben würde, spaltete die SPD-Regierung und die Ostpolitik das Land. Aber es geschah nie so gründlich, wie es heute ein Facebookposting oder ein Tweet vermag. Selbst die Rechten verschwanden schnell wieder, Grundgesetz war plötzlich Bürgers Liebling, und das Verfassungsgericht genoss übergroßes Ansehen. Walter Scheel sang hoch auf dem gelben Wagen von einer romantisierten Zeit, vom Leben und der Vergänglichkeit, und er kam sogar aus meiner Stadt.
Als ich geboren wurde hörten die meisten Menschen deutsche Schlager. Michael Holm suchte sein Girl in Mendocino, Christian Anders bat seine Angebetete, sie möge nicht vorbei gehen, und Adamo schickte seine Träne auf Reisen. Aus Frankreich stöhnte sich Jane Birkin in die Herzen und Fortpflanzungsorgane der rebellischen Jugend, während andere, noch rebellischere, von Revolutionen Sangen. Die Esoteriker begrüßten das Wassermannzeitalter, und Rock und Pop waren in der Mitte des Bürgertums zumindest ein Bisschen angekommen. Mein Bruder, Jahrgang 1949, und meine Schwester, Jahrgang 1957, hörten ganz andere Musik als meine Eltern, Jahrgang 1929 und 1930. Und ich habe von allem etwas abgekriegt und bin heute sehr glücklich darüber.
Als ich geboren wurde schien die Zukunft noch einige Jahre lang vielversprechend, trotz harter Arbeit, trotz kaltem Krieg, und trotz der rebellischen Jugend. In vielerlei Hinsicht war es die beste Zeit unserer Familie, und es war, glaube ich, die beste Zeit in der Nachkriegsrepublik. Nein: Ich habe den Terrorismus der RAF nicht vergessen. Er war schlimm, er führte zu Misstrauen und harten Debatten. Aber es waren eben Debatten, keine Mikrobürgerkriege. Das viel gescholtene, beschauliche Deutschland bonner Provinienz war besser als sein Ruf. Es war die Zeit, in der wir dachten, dass man nicht immer die ganz großen Räder drehen muss, die Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. Weitsichtige haben vieles früher gewusst, aber wer weiß, ob es stimmt. Wie kann man es wissen, wenn sie es erst später verraten?
Als ich geboren wurde schrieben wir den 12. Februar 1969. Heinrich Lübke war Bundespräsident, Kurt-Georg Kiesinger Bundeskanzler, auf seinem Gesicht waren noch die fünf finger Beate Klarsfelds zu erahnen, die er am 07.11.1968 wegen seiner Nazivergangenheit zu spüren bekommen hatte. Willy Brandt war Außenminister und zeigte eindrucksvoll, wie die Versöhnung innerhalb eines Volkes angegangen werden sollte.
50 Jahre später fühlt sich alles ein wenig wie eine Degeneration an. Wir scheinen so vieles von dem vergessen zu haben, was wir einmal wussten über Versöhnung, Respekt, Mitmenschlichkeit und Sozialstaat. Aber vielleicht werde ich auch nur alt, denn als ich geboren wurde, sah die Welt noch ganz anders aus.