Heute ist ein Tag, an dem man sich an Menschen erinnern sollte, die nicht mehr da sind. Allerheilligen. Soweit ich zurückdenken kann, war der 1. November immer mit einem grau-melancholischen Wetter verbunden, das einen Menschen dazu animiert, nachdenklich zu werden. Keine Ahnung…vielleicht sitzt da oben tatsächlich jemand, der etwas zu sagen hat und ordnet für den Tag immer das schlechte Wetter an um für entsprechende Stimmung zu sorgen. Ich saß gerade am Fenster, schaute in den grauen Himmel und dachte an die schönste Frau der Welt…meine Oma.
Als sie zur Welt kam, bluteten noch die Wunden des ersten Weltkrieges und die Titanic lag erst wenige Jahre auf dem Grund des Atlantiks. Nach kurzer Kindheit kam die erste und letzte Liebe. Drei Kinder, die folgten, tobten noch fröhlich in dem Garten als die Welt in dem zweiten Krieg versank und ihr Mann eines Tages in ein hölzernen Eisenbahnwaggon einsteigen musste und an die Front gejagt wurde. One Way. Mit den Kindern, die sich an ihren Rock festhielten, versuchte sie die düstere Zeit zu meistern. Voller Hoffnung, das Ende des Krieges bringt endlich die lang ersehnte Ruhe in ihr müdes Herz, freute sie sich wie der Rest der Welt auf den Frieden. Leider entpuppte sich dieser als Illusion. Als Frau eines Deutschen in ehemals von den Nazis besetzten Gebieten stand sie nicht unbedingt oben auf der Beliebtheitsskala der Bevölkerung und der Sicherheitsbehörden des neuen, kommunistischen Regimes. Erneut musste sie packen, wegziehen, hoffen, den Repressalien zu entkommen. Und tatsächlich gelang es ihr etwas Ruhe in ihre Familie zu bringen. Sie arbeitete, zog die Kinder auf, kämpfte täglich gegen die Unannehmlichkeiten der kommunistischen Düsterkeit und dennoch schaffte sie ein friedliches Umfeld für diejenigen, die sie über alles liebte. Und dann…dann kam ich. Wie in vielen Familien gab es auch bei uns gewisse Ereignisse, die dazu führten, dass ich die ersten Jahre meines Lebens bei Oma verbringen musste und nicht bei den Eltern. Sie war diejenige, die in der Wüste aus Dreck und Not für mich eine Oase der Sorglosigkeit und Freude aufzubauen schaffte. Tag für Tag und Jahr für Jahr spannte sie einen Schutzschirm über mein Leben auf, kämpfte wie Löwin für mein Wohlbefinden bis eines Tages meine Eltern endlich in der Lage waren, eine Familie für mich zu sein. Ich habe mir eines Tages eingeredet, sie wird ewig in meinem Leben präsent sein. Ich konnte mir nicht vorstellen ihr Lächeln und ihre Wärme eines Tages vermissen zu müssen doch ihr Körper schwächelte und ihre sensible Seele wurde immer öfter von den Dämonen der Vergangenheit heimgesucht. Kurze Kindheit, der Krieg, die Zeiten danach und der tägliche Kampf ums Überleben der Familie, dann der letzte Krieg…ein Krieg gegen sich selbst. Die Depression sprengte ihr Herz in Millionen von Teilen und niemand war in der Lage aus diesem traurigen Puzzle die ursprüngliche Form zu legen. Es kam der Tag, an dem sie ging. Als ich davon erfuhr, weinte ich nicht. Ich kann es nicht erklären was ich an diesem Tag spürte. Mein Verstand schaltete offenbar eine merkwürdige Schutzfunktion ein damit ich mich selbst nicht in die Stücke zerreiße. Dann die Trauerkapelle, der massive Sarg, die Menschen mit versteinerten Gesichtern, der Moment als die Erde sie für immer aufnahm…ein Haufen von kurzen Schnappschüssen und dieses wahnsinnige Gefühl, dieser herzzerreißende Moment sei nicht real! Es sind mittlerweile viele Jahre seit diesem Tag vergangen doch ihre Bilder in meinem Kopf sind nicht eingestaubt. Lebhafte Erinnerungen an eine wunderbare Frau, die ihr Leben für die Familie opferte werden für immer mein Herz füllen…danke Oma.
Heute Nachmittag werde ich einen nah gelegen Friedhof besuchen, an einem, in meinem Empfinden vergessenem Grab stehen bleiben, an dem kein Licht brennt und dort drei Grablichter anzünden. Für die schönste Frau der Welt, für alle anderen, die gegangen sind und eins für denjenigen, der mir die kalte Steinplatte seines Grabs dafür zu Verfügung stellen wird.