Mir begegnete dieser Vergleich von Leben und Gesellschaft mit dem Fußball zu jener Zeit nicht zum ersten Mal. Schon in der Schule hatten wir einen Rektor, der uns die Gesellschaft in der Sozialkunde wie ein Sportmoderator kommentierte. Und letzte Woche dann las ich einen Text, der mich an Krieglbauer und an den Rektor erinnerte. Er war so voller Narrheiten, dass es schwer ist, darüber hinwegzugehen. Ich habe ihn schon letzte Woche kurz gestriffen.
Deniz Yücel sublimiert diese allgemeine sportive Interpretation des alltäglichen Lebens in eine profane Transzendenz. Er sagt nicht einfach, dass wir uns alle ein Beispiel an der Einsatzbereitschaft nehmen müssen, sondern macht uns im Grunde das Gegenteil weis: Moderne Staaten, Systeme, Gesellschaften, wie immer man das nennen will, brächten erfolgreiche Mannschaften hervor. Er behauptet insofern das Gegenteil von dem, was Krieglbauer meinte. Oder sagen wir, er spricht die Bedingtheit von Mannschaftssport und Gesellschaft an.
»Deutschland wurde Weltmeister, weil es sich modernisiert hat. Weil dieses Land ein anderes, ein besseres ist«, behauptet Yücel. Diese zwei Sätze sind seine zentrale Botschaft. Er bezieht das vor allem darauf, dass Deutschland heute ein weltoffeneres Land sei, in dem rassistische Reflexe nicht mehr wirken. Hat er die NSU vergessen? Die typischen Affekte der Menschen gegenüber Roma und Osteuropäer? Die Kampagnen konservativer Gazetten und Parteien? Alternative für Deutschland? Hat Yücel im Taumel nicht an sie gedacht? Überhaupt könnte man Yücels Einsicht auch anders lesen, denn er schreibt unter anderem auch: »Vielleicht ist es Merkel-Deutschland, das Weltmeister geworden ist. [...] Anfang des Jahrtausends hatte man den Anschluss verloren.« Meint er speziell den letzten Satz jetzt bezogen auf den Fußball oder die Gesellschaft? Wahrscheinlich beides. Letztlich war die Agenda 2010 also richtig? Denn sie hat uns nicht nur Hartz IV eingebrockt, sondern auch den DFB zum Weltmeister gemacht.
All das ist Unfug, der aber in der Stunde des Triumphs gut ankommt. Mit etwas mehr Abstand hätte es doch ins Auge stechen müssen, dass da was faul ist. Wenn modernisierte Gesellschaften die Voraussetzung für erfolgreichen Fußball sind und waren, dann muss die Sowjetunion in den Sechzigerjahren eine durch und durch moderne Gesellschaft gewesen sein. Jedenfalls besser, als manches, was es im Westen fußballerisch so gab. Zwischen 1958 und 1970 landete das Team bei Weltmeisterschaften immer mindestens im Viertelfinale, 1960 war man Europameister und 1964 und 1972 jeweils Finalist. 1968 reichte es für den vierten Platz. Es gab und gibt fürwahr imposantere Titellisten. Aber ausschlaggebend war, dass im sowjetischen Fußball das Pressing eingeführt wurde. So modern spielte damals niemand anderes. Die Taktik als Spiegelbild der Gesellschaft?
Wenn wir schon dabei sind, die These von der modernen Gesellschaft als Grundlage erfolgreicher Mannschaftsleistungen im Fußball für Unsinn zu entlarven: Die österreichische Nationalauswahl galt gegen Ende der Kaiserzeit bis hin in die Ära des Austrofaschismus als ein »Wunderteam«. Wann war die Gesellschaft moderner? Unter Kaiser oder Schuschnigg? Das faschistische Italien feierte die WM-Titel 1934 und 1938 als Triumph des faschistischen Übermenschen über all die anderen, die in minderwertigeren System lebten. War der Jubel berechtigt? War der Faschist echt der bessere, leistungsfähigere und einsatzkräftigere Mensch? Hat uns 2004 bewiesen, dass die Griechen in einem intakten Gesellschaftskörper lebten?
Gesellschaftliche Sinnsuche im Fußball hat es freilich immer gegeben. Nur vielleicht nicht als solches Massenphänomen wie heute. Als der bayerische Bereichssportführer Oberhuber 1940 als These vorbrachte, dass das Wort vom Angriff, der die beste Verteidigung sei, »seine tiefste Erfüllung und Berechtigung gerade in unseren Tagen erhalte«, da schrieb er dies in eine Zeitschrift namens »Fußball«. Für solchen Unsinn waren die Jünger des Sports offen. Sie haben zu allen Zeiten geglaubt, dass ihr Sport mehr als nur Sport sei, nämlich Abbild und Formgeber der Gesellschaft. Aber diese exegetischen Spagate leistete man für ein Fachpublikum und nicht für die Masse. Yücels Analyse war ja nur einer von ungezählten Texten, die den WM-Titel zu einem gesellschaftlichen Produkt deklarierten, vielleicht auch, um die frohe Kunde vom »Wir sind Weltmeister!« irgendwie zu untermauern. Denn wenn ein modernisiertes Land wie Deutschland, in dem der Niedriglohnsektor und Hartz IV als modern gelten, in dem Lobbyismus wütet und die NSU zwar vor Gericht steht, aber Rassismus weiterhin blüht - wenn ein solches Land titelreif ist, dann ist das wahrscheinlich auch der Sieg des Leiharbeiters und Hartz-IV-Berechtigten, des Lobbyisten und des Rassisten. Unser aller Titel!
Vor einigen Tagen gewannen die Säbelfechter des Deutschen Fechter-Bundes erstmals die Weltmeisterschaft. Die Medien berichteten verhalten. Jenes Morgenmagazin, das eine Woche zuvor verkündete, dass wir Weltmeister seien, meldete: »Die deutschen Säbelfechter haben erstmals die Weltmeisterschaft gewonnen.« Wie? Nur die? Nicht wir alle? Aber diese Säbelfechter sind doch wohl auch das Produkt eines modernen Deutschland. Hat die soziale Schieflage und die Schere zwischen Armut und Reichtum, die immer weiter auseinanderklafft, nicht auch diesen Titel ermöglicht? Yücel, schreiben Sie noch was dazu? Einer muss es doch mal kundtun, dass gutes Säbelfechten von einer modernisierten Gesellschaft ausgeht.
&button;