Als der Postbote meinen Kopf überfuhr

Von Butterwek @butterwek

Das Enttäuschende zuerst: mit Bierdosen hat hier kaum etwas tun und Bäume kommen nur am Rande vor. Brady Udall: “Der Bierdosenbaum”, Roman, aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens.Was den deutschen Verlag dazu bewogen haben mag, “The Miracle Life of Edgar Mint” in “Der Bierdosenbaum” umzutiteln, lässt sich auch bei wiederholter Lektüre des flüssig und bewegt geschrieben Textes nicht erklären. Möglicherweise darf der Missgriff auf die im Genre des Kinofilms inzwischen liebgewonnene Tradition zurückgeführt werden, sich bei einem Kasten Germania-Export eine möglichst abwegige, jedoch massenkompatible Überschrift auszudenken. 1980 wurde in einem bis heute nie mehr erreichten Akt schöpferischen Schaffens des italienischen Splatter-Machwerks spröde Erstzeile “Fear in the City of the Living Dead” flugs der Supernasentitel “Ein Zombie hing am Glockenseil” übergestülpt und dadurch ein Zielpublikum avisiert, das am Samstagabend nichts anderes als den Sonntagmorgen und die Sendung mit der Maus in der Libido hatte und sich noch herzlich an Didi Hallervorderns “Nonstop Nonsens” freuen konnte.

Heute ist die Klientel erwachsen und wirkt sichtlich enttäuscht, wenn es sich beim “Bierdosenbaum” nicht um einen Alkoholikerroman handelt, ja nicht einmal eine zünftige Sauferei mit orgiastischen Abschweifungen geboten wird. 2004 wickelt der Velag den Titel dann ab und benennt ihn um in: “Das wundersame Leben des Edgar Mint”. Oha!

Brady Udall / http://en.wikipedia.org/wiki/File:Brady_Udall,_author.jpg

Brady Udall enttäuscht keinesfalls. In einnehmender Sprache entwickelt er die Jugendjahre seiner literarischen Gestalt Edgar P. Mint und begleitet den Indianerwaisen während vier Etappen, in denen – das Bier ist längst getrocknet – hineingesehen wird in die USA des späten 20. Jahrhunderts.

1. Saint Divine

2. Willie-Sherman

3. Richland

4. Stony Run

In Saint Divine lässt der Ich-Erzähler uns näher an sich herantreten und einen ersten überraschten Blick auf ihn, den kleinen Indianerjungen werfen, dem soeben der Schädel zerquetscht wurde. In Willi-Sherman verfolgen wir sein Werden und Überleben an der “Reservats”schule.

“Brady Udall ist die Stimme einer neuen Generation.”

Das lässt sich in einigen Besprechungen lesen und auch auf dem Klappentext bleibt nichts unversucht, den in Europa unbekannten Autor mit möglichst platten Attributen zu positionieren, um ihm eine möglichst breit dahertrippelnde Herde von Lesevieh zuzutreiben. Udall bedarf solcher Fürsorge nicht. Seine Sätze sind klar und die Sinnzusammenhänge fein zwischen Ironie und Tragödie austariert, so dass er sich selbstbewusst und ohne Gehege in der freien Wildbahn des Literaturbetriebes wird herumtreiben dürfen. Diesem Schriftsteller eine Nische zuweisen zu wollen, ihm womöglich noch den verkaufsfördernden Stempel einer sogenannten “Minderheitenliteratur” auf die Stirn drücken zu wollen, mag bei wohlwollendem Abwägen von guter Absicht zeugen – gute Wirkung erzielt derlei jedoch nicht.

“An diesem Tag sollte ein Schriftsteller kommen, von dem die Lehrer seit Wochen erzählt hatten, Vincent DeLaine, der große Dichter der amerikanischen Ureinwohner, irgendein berühmter Mann, dessen Namen wir nie zuvor gehört hatten.”

Udall ist zu klug, um in seinem Erstling nicht bereits mit jenen Klischees zu spielen, die ihm aufgrund seiner Abstammung und des Sujets des Romans angeheftet werden. Also lässt er Edgar Mint während seiner Schulzeit die Lesung eines indianischen Poeten besuchen. Poetisch ist hier allerdings recht wenig. Der Mann ist kein Dichter, allenfalls ein Gebrauchslyriker, der aus seiner Herkunft Aufmerksamkeit zieht, sich in den Attributen einer vereinfachenden Pressel spiegelt und Vorurteile nicht abbauen hilft, wie seine Literatur vorgibt, sondern durch sein Handeln noch vstärkt. Eine indianische Mischung zwischen Sting und Bono, welcher der künstlerische Impetus bereits zu Beginn abhanden gekommen ist. Ein Zombie des Kunstbetriebs, der allenfalls die Platititüden zu reproduzieren vermag, die von seinesgleichen erwartet werden. In Deutschland haben wir zwar keine Indianer, dafür aber Vertreter anderer Minderheiten: die Kölner und Düsseldorfer, Niedecken, Wenders und Campino. Stimmen einer Generation.

“Dürfte ich nur eine einzige Begebenheit aus meinem Leben berichten, wählte ich diese: Ich war sieben Jahre alt, als der Postbote meinen Kopf überfuhr. Kein Erlebnis hat mich so geprägt wie dieses.”

Edgar Mint ist sieben Jahre alt, als er unter ein Postauto klettert, spielend die Gefahr nicht achtet und den Schädel zerschmettert bekommt, da der Fahrer zurücksetzt und besonders kräftig Gas gibt, weil er einen Kürbis unter den Rädern vermutet. Der Protagonist ist ein Indianerjunge. Das Buch über sein Heranwachsen jedoch kein Indianerbuch. Es bleibt das Buch über einen Menschen. Hautfarbe und Gesellschaft prägen zwar die Umstände. Die Aktionen und Reaktionen sind jedoch die eines Menschen. Alles ganz im aristotelischen Sinne. Edgar überlebt.

Wie er alles weitere überleben wird, das ihm im Laufe der nächsten 7 Jahre zustoßen wird – und das ist allerhand. Er wird geprügelt, erfährt den Spruch “Friss Scheiße, Mann!” in sinnlichster Bedeutung, überlebt den Sprung von einem Abhang und schließich auch die süßliche Liebe einer Mormonenfamilie, in deren Behutsamkeit er sich im Teenageralter einschmuggelt. Edgar ist Waise. Denn als er nach Monaten aus dem Koma erwacht, in das der Postbote ihn befördert hatte, ist er noch zu schwach, um nach Hause zu gehen, und als er gerade stark genug erscheint, sterben Mutter und Großmutter. Den leiblichen Vater, einen nostalgisierenden Cowboy, hat er nie zu Gesicht bekommen.

Also beginnt Edgars Odyssee durch die USA der 1970er Jahre. Das Schicksal eines Indianerjungen steht tatsächlich im Mittelpunkt des Romans und die Bezüge, die, von ihm ausgehend, sich auftun, spiegeln einen dunklen Teil des amerikanischen 20. Jahrhunderts wider. Dies geschieht derart fein in den Erzähltext verwoben, dass die politisch moralische Botschaft nur feinen Augen sichtbar wird immer zuerst das Lesevergnügen entgegenspringt. Denn Udall lässt Edgar eine Schreibmaschine schenken, damit jener über das Beschreiben der eigenen Erlebnisse sich seinerselbst wird vergewissern wird können. Die Hermes Jubilee wird zu Edgars engster Vertrauten, sie gewinnt ordnenden, aber auch archivierende Kraft über den Jungen.

“Der Rhythmus ergriff Besitz von mir und trieb mich zu immer schnellerem, halsbrecherischem Tempo an, das häufig damit endete, dass sich alle Typen verhalten wie Finger, die nach dem letzten Strohhalm griffen.”

Womit Edgar zum Erzähler des eigenen Lebens wird. Rückblickend, als Stony Run bereits Historie ist, holt er aus und berichtet so aufrichtig, wie ein Erwachsener das aus seiner abgeklärten Sicht wohl tun mag. Er springt zwischen der ersten und dritten Person und beschreibt dabei alle dem Ich-Erzähler wesentlich erscheinenden Phasen bis zu dessen 15. Jahr. Die Sprache bleibt stets die gleiche, doch passt sie ihr Reflexionsniveau dem Alter des gerade handelnden Edgar an. Das wirkt niemals peinlich oder aufgesetzt, denn sie findet die Worte und Gedanken des 9jährigen genauso wie jene des Teenagers.

Wer auf diese Weise seine Leser manipuliert, der tut es auf eine möglichst ehrlich erscheinende, weil naiv wirkende Weise. Er tut es historisch. Das Zukünftige bleibt verschlossen und Entscheidungen, Siege wie Niederlage werden nicht auktorial beurteilt, sondern erscheinen aus dem Moment ihres Entstehens gerechtfertigt. Alles ist offen, nichts ist mit Erklärung oder Bedeutung belegt. Edgar bleibt ehrlich. Auch bei seinem Sprung in Schlucht. Selbst als Onanist und Selbstmörder.

“Mit steifen Gliedmaßen schleppte ich mich über die Staubstraße und stöhnte wie ein trauriges, einsames Monster, das sich gerade aus dem Sumpf gezogen hatte.”

Ein Bierdosenbaum kommt tatsächlich vor. Aber nur kurz und nebenbei. Allenfalls käme ihm allegorische oder metaphorische Bedeutung zu. Jene ernsthaft zuzuweisen, fällt schwer. Soll er stehen für einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben des Edgar P. Mint, versagt er für das Folgende den Inhalt. Denn Udall kapriziert sich weder als moralisierende Stimme der Indianer, noch arbeitet er als plumper Symbolist. Würde nicht darauf hingewiesen werden: Edgar P. Mint könnte afroamerikanischer Herkunft, oder auch ein hispanischer Teenager sein. Und Udall weder ein neuer Irving oder Boyle, aber gewiss bald ein Schriftsteller eigenen Ranges. Keine Stimme ihrer Generation…

Butterwek