Ein neuer Tag in Italien, auf 2.256 m. Und was für ein Tag! Es begrüßte uns wieder einmal ein strahlend blauer Himmel und Sonne. Man konnte jetzt schon erahnen, dass es heute warm werden würde. Kurze Hose und armfreies Trikot war angesagt. Wenn man bedenkt, wie das Wetter vor ein paar Wochen noch war, dann hatten wir wirklich schon ein unverschämtes Glück.
Aber erst mal Frühstück auf der Terrasse mit Blick auf die Berge, die Almen und ins Tal. Wir hatten geschlafen wie die Bären und trotz des üppigen Abendessens, waren wir wieder mal hungrig. Das lag nicht nur an der Höhenluft, sondern auch an dem gesteigerten Kalorienbedarf.
Von hier hatte man auch einen guten Blick auf die „Alte Pforzheimer Hütte“, die nicht weit entfernt stand. Diese Hütte steht heute leer und ist verlassen. Im Jahre 1901 wurde die Pforzheimer Hütte am Schlinigpass im Sesvenna- und Lischana-Gebiet, unweit der damaligen österreichisch- schweizerischen Grenze am Übergang vom Vinschgau zum Unterengadin eingeweiht. Um den Übergang von Scuol – Tarasp nach Schlinig und Mals direkt zu ermöglichen, war ein Schluchtweg in eine Felswand des oberen Uinatales notwendig. Es war ein kühner hochalpiner Steig, der 1910 fertiggestellt wurde. Wir haben diesen Steig ja kennen gelernt. Der Frieden von St. Germain 1919 und die damit verbundene neue Grenzziehung bedeute das „Aus“ für diese erste Pforzheimer Hütte, die in der Folgezeit als Posten italienischer Grenzwächter und Zöllner diente. Im Innern ist sie ganz zerfallen, es stehen nur noch die Außenwände.
Beeindruckend war diese alte Hütte trotzdem, und wir sahen sie uns aus der Nähe an. Man möchte sich kaum vorstellen, was es bedeutet hat, in dieser Höhe eine Hütte aus Stein zu bauen. Das ganze Baumaterial musste ja irgendwie hierher geschafft werden.
Am Horizont lachte die Ortler-Gruppe und das Tal davor war unser Ziel. Nach einer Etappe wie der gestrigen, waren wir froh, dass die heutige mit einer Abfahrt beginnen würde. Am Vortag hatten wir 13 Stunden im Sattel gesessen und das ging nicht spurlos an uns vorbei. Trotz allem fühlten wir uns erstaunlich fit und ausgeruht. Jetzt stellte sich heraus, das unsere Kraft und Kondition absolut ausreichend war. Die Regeneration, die während der Vorbereitungszeit so schwer einzuschätzen war, funktionierte wirklich gut, und an jedem neuen Tag waren die Beine wieder einsatzbereit. Blasen oder Druckstellen hatten wir auch keine, was will man mehr? Aber noch lagen harte Tage und steile Pässe vor uns, man soll ja bekanntlich den Tag nicht vor dem Abend loben. Also hieß es wieder: Rucksack anschnallen.
Während der Trainingsphase waren wir auch immer wieder mit Rucksack unterwegs gewesen. Anfangs nur, um etwas auf dem Rücken zu haben und später mit immer mehr Gewicht. 8 kg wog eine Rucksack, und wenn man das Gewicht in der Hand hält, dann fühlt es sich nicht wirklich schwer an. Muss man jetzt aber über mehrere Tage diese Last für 8 Stunden und mehr am Tag mit sich herum tragen, dann ist das schon etwas anderes, denkt man. Wie bei so vielen Dingen, so ist auch hier die Qualität ganz entscheidend. Das Tragesystem ist maßgeblich dafür verantwortlich, ob man Druckstellen oder gar Rückenprobleme bekommt. Da wir viel Wert auf diesen Punkt gelegt haben, durften wir jetzt feststellen, dass wir mit jedem Tag den Rucksack weniger spürten, und das lag nicht daran, dass er durch Essen der Rationen leichter wurde.
Diese Abfahrt hielt, was sie versprach. 1,200 Hm nach unten bis ins Tal, und wieder sehr steil und rasant. Teilweise war es schon fast zu steil zum Fahren. Normalerweise waren das Wandersteige und Wanderwege, die wir jetzt runter fuhren. Es war in dieser Höhe jenseits der Baumgrenze noch sehr karg und sehr viel mehr als Gras und Steine zeigte die Landschaft noch nicht. Das Panorama, durch das wir fuhren, war aber trotzdem unglaublich schön. An einem Hof hätten wir eigentlich einen bestimmten Weg oder Abzweigung nehmen müssen. Hier fing auch der erste Wald wieder an, durch den wir hätten fahren müssen. Navigationsgerät und Karten bestätigten das auch. In Natura war es aber etwas anders. Irgendwann hörten die Schilder auf und ein sinnvolles Weiterfahren war nicht zu erkennen. Die Räder jetzt durch das Gebüsch querfeldein zu schieben, war nicht gerade das, was wir wollten. Also sind wir nach Karte einem Schotterweg gefolgt, der später wieder auf unseren ursprünglichen Weg treffen sollte. Den Einstieg hatten wir also verpasst oder nicht gefunden. Den Punkt, wo wir hätten raus kommen müssen, sehr wohl. Im Nachhinein war unser kleiner Schlenker sicher nicht verkehrt, denn der ursprüngliche Weg sah, soweit wir das einsehen konnten, nicht so aus, als hätte man fahren können. Eine Kletter- und Tragepassage. Die weitere Abfahrt führte dann durch ein wunderschönes Tal und vorbei an einem Wasserfall. Der Weg führte dann weiter durch scheinbar endlose Wiesen, auf denen schon um diese Uhrzeit Wassersprenger liefen, um die Alm zu bewässern. Dabei wurden wir etwas nass, was aber gar nicht so unwillkommen war, denn der wolkenlose Himmel versprach wieder Temperaturen über 30 ° C. Zeitweise wurden wir auch von einem ziemlich großen Schäferhund verfolgt, der auf den Wiesen unterwegs war und uns einige Hundert Meter begleitete. Obwohl er keinerlei Anzeichen machte, nach uns zu schnappen, konnten wir es nicht lassen, uns immer wieder nach ihm umzudrehen.
Bis auf 1.000 m sollte es runter gehen. Irgendwann kamen wir auch wieder auf die reguläre Straße und folgten, nicht minder steil, den Serpentinen bis ins Tal und dem Ort Schleis. Was uns wirklich erstaunte bei diesem Gefälle, waren scheinbar einheimische Sportler, die mit Sommerski unterwegs waren. Das waren eine Art Sommertrainingsgeräte für Skifahrer auf Rollen, allerdings auch mit Stöcken. Und damit sind diese Männer und Frauen tatsächlich diese Serpentinen hochgeskatet. „Respekt“ kann ich da nur sagen. Das sah ziemlich anstrengend aus und war angesichts des warmen Wetters sicherlich eine enorme Leistung.
Ab jetzt verlief die Strecke ein Stück entlang der „Via Claudia“, weiter langsam abwärts durch idyllische, kleine italienische Dörfer. Die „Via Claudia“ war die erste echte Gebirgsstraße, die die Römer vor fast 2.000 Jahren errichtet hatten. Diese verläuft auch über den Fern- und Reschenpass und war damals der leichtest mögliche Weg über die Alpen. Auch heute noch ermöglicht die Via Claudia Augusta dem Radtourenfahrer den leichtesten Alpenübergang.
Für uns folgten jetzt kleine Ortschaften wie Schleis und Glurns, wobei letztere ein Geheimtipp sein sollte. Glurns ist ein kleines altes Städtchen mit einer ebenso alten Klosteranlage und die kleinste Stadt der Alpen. Dieses Städtchen verfügt noch über seine vollständig erhaltenen Stadtmauern.
So saßen wir also auf dem Dorfplatz, aßen Eis und versuchten den erwähnten Geheimtipp, einen Cappuccino von Gluns. Ja, so stellt man sich Italien vor, kleine Städtchen, Sonne, Einheimische, die im Schatten großer Kastanienbäume sitzen und eine gewisse Beschaulichkeit. Der Cappuccino schmeckte übrigens sehr gut.
Natürlich lockt so ein Ort auch Heerscharen von Touristen an. Allein auf dem kleinen Marktplatz konnten wir unzählige Motorradfahrer, Radfahrer, Wanderer und sonstige Ausflügler beobachten. Ein buntes Treiben und manchen der Radfahrer würden wir wohl noch mal wiedersehen.
Aber kein Tag ohne Anstrengung. Bisher war diese Etappe noch keine große Herausforderung, es wurde also wieder mal Zeit, sich etwas anzustrengen. Wir mussten noch rauf auf die Schartalpe auf 1.829 m, denn auf der anderen Seite des Berges lag „Trafoi“, unser Etappenziel für diesen Tag. Aus dem Tal heraus gab es leider kein langsames Ansteigen, sondern, wie schon so oft, direkt die volle Steigung hoch durch den Wald. Kehre um Kehre ging es aufwärts und die versprochenen Temperaturen um die 30 ° C waren auch hier wieder deutlich spürbar. Genau so hatten wir es ja gewollt und jetzt war es so warm, dass wir dauernd trinken mussten. Wir schwitzten so sehr, dass sich Salzränder auf unseren Trikots und den Rucksäcken abbildeten. In einer Kurve haben wir eine kurze Pause eingelegt und das war für mich dann der überraschendste Moment an diesem Tag. Ich bin normalerweise kurzsichtig und ich dachte, ich hätte meine Brille an und wollte sie kurz ausziehen. Erstaunlicherweise hatte ich das schon vor geraumer Zeit gemacht und hatte sie in der Tasche. Ich konnte auch so gut sehen.
Auf den letzten Hm mussten wir sogar wieder schieben, und so etwas ist tatsächlich als Radweg ausgeschrieben! Dieses Stück war eindeutig zu steil zum Fahren, gefühlte Steigung war mindestens 30 %, in Wirklichkeit natürlich weniger … aber nicht viel. Irgendwann kam dann aber doch die Alm in Sicht und hier gab es auch Wasser. Eiskalt und klar, wie sehr man sich danach sehnen kann. Nach einer kurzen Pause ging es über Feldwege wieder runter ins Tal. Es war jetzt milder und der Wind kühlte uns etwas. Es roch erst nach Wald und bald schon nach frisch gemähtem Gras, wunderbar.
Unten auf der Straße nach Trafoi angekommen, aßen wir noch etwas und, natürlich, trinken. Trafoi ist ein kleiner Ort, mit weniger als 100 Einwohnern und liegt am Fuße des Ortlers. Mitten durch den Ort führt die Straße auf den bekannten Alpenpass „Stilfser Joch“. Bis Trafoi sind es also noch 3 km, der Anstieg zum Stilfser Joch fing aber schon hier an. Ab jetzt hieß es für die nächsten 15 km nur noch bergauf. Meine Beine waren schwer, besonders jetzt, nachdem wir gesessen hatten.
Endspurt war angesagt, erst langsam und im kleinen Gang. Wir fuhren wieder Kolonne und im Windschatten des Vordermanns. Dann schneller werdend, hoch schalten und Trittfrequenz finden. Ja, so ging es, so ließ es sich gut fahren, gerade Stücke, dann Kurven, dann noch eine, ein Tunnel und dann das erste Schild. Ein Schild mit einer 48. Die Spitzkehren bis zum Pass sind durchnummeriert. Das hier war also die 48ste. 48 Spitzkehren bis zum Pass, „normale“ Kurven nicht mitgerechnet. Aber nicht mehr heute, unsere Unterkunft war in Sicht.
Kommende Woche werden wir über den fünften Fahrtag berichten, die fünfte Etappe…
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