Die erste Etappe hatten wir ganz gut verkraftet, die Beine waren noch etwas schwer, aber nicht ganz so schlimm, wie wir befürchtet hatten. Wenn jetzt die Räder wieder rollen, wird es den Beinen schnell wieder gut gehen. Das heutige Tagesziel hieß Ischgl, wer kennt es nicht. Der Skiort liegt ca. 56 km von St. Anton entfernt, wobei der höchste Punkt auf 1.650 m lag. Die scheinbar lockeren 56 km klingen eigentlich recht harmlos, zuhause sind wir auch diese Strecken gefahren und hatten nicht den ganzen Tag dafür Zeit. Ja, so denkt man, wenn man die reine Zahl betrachtet. In Wirklichkeit halten sich Anstieg und Abfahrten in etwa die Waage. Hier also mal ganz lockere 28 km bergauf. Die Steigungen, die es dabei zu bewältigen galt, waren noch mal ein Stück extremer als in meiner Trainingsumgebung, der Nordeifel, und hier kann man schon eine Menge Leid erfahren. Die Alpen halten also eine ganze Menge Höhenmeter bereit für all die Mountainbiker, die an eine Überquerung denken. Hinzu kommt, dass der Untergrund oft unwegsam ist, Energie und Kraft schluckt und teilweise viel Geschicklichkeit verlangt. Eine einzige Unachtsamkeit kann schon böse Folgen haben. Ich musste das am eigenen Leibe erfahren. Im Nachhinein haben wir von Fahrern gehört, die Abschnitte gefahren sein sollen, die wir mit dem Rad auf den Schultern raufgeklettert sind. Ich weiß zwar, das es durchaus Sportler (oder Wahnsinnige?) gibt, die vor keiner Steigung Halt machen und Passagen runter fahren, an denen ich mich nur abseilen würde, trotzdem fällt es mir dann schwer zu glauben, dass das jemand auch bergauf auf unbefestigtem Untergrund und ohne seitliche Absperrungen bringt.
Das ist auch eher was für die harten Profis, wir Amateure versuchten auf dieser zweiten Etappe unsere Kräfte einzuteilen und auf dem unbekannten Gelände keine unnötigen Risiken einzugehen. Ankommen, und ganz besonders zusammen ankommen, war das, was wir uns auf die Fahne geschrieben haben. Natürlich ist man nie sicher vor Unwegsamkeiten, Pannen und Unfällen. Man muss sie aber nicht gerade provozieren. Im Vorfeld, bevor wir die Reisen angetreten sind, hatten wir auch darüber gesprochen, was wäre wenn. Also, wann brechen wir die Tour ab und wann nicht. Wann muss vielleicht einer aufgeben, während die anderen Beiden die Tour zu Ende fahren. Ein unangenehmes Thema, über das man aber unbedingt sprechen muss, um sich im Klaren darüber zu sein, wo die persönliche Grenze und die der Gruppe liegt. Unsere Einigung war folgende: Sollte der schlimmste Fall eintreten und einer oder mehrere von uns einen Unfall haben oder einen Sturz mit schweren Verletzungen, die ein Fahren unmöglich und eine ärztliche Versorgung notwendig machen, dann brechen wir definitiv ab. Sollte jetzt jemand ein Materialproblem haben, z. B. einen gebrochenen Rahmen, der nicht reparabel ist, dann fahren die anderen weiter und man würde sich am Ziel „Gardasee“ treffen.
Auch dieser Tag stand unter einem guten Stern. Das Wetter war wieder wunderbar und die Sonne schien von einem blauen Himmel, der uns die besten Aussichten versprach. Aber auch hohe Temperaturen. Die Beine waren noch etwas schwer, dieses bleierne Gefühl verlor sich aber schnell auf den ersten 20 km bis zu dem Ort „Pettneu“. Wir folgten ganz locker dem Fluss „Rosanna“, wenige Steigungen und viel Landschaft. Wie am Tag zuvor, so wurde auch an diesem Fluss an vielen Stellen gebaggert, um die Hochwasserschäden zu beseitigen, Hier konnte man sehen, welche Kraft das Wasser haben musste, wenn es in der Lage war, tonnenschwere Steine vor sich her zu spülen und diese Massen an Steinen und Geröll zu bewegen. Das alles und sogar weggerissene Brücken waren die Bilanz der vergangenen Schneeschmelze. Unglaublich diese Macht.
In Pettneu sollte unser Einstieg an einer kleinen Bahnhofstation sein.
Eine wirklich kleine Station, mitten im Ort. Dort hin zu kommen, bedeutete aber, einen kurzen Anstieg von vielleicht 200 m Länge rauf zu fahren, der allerdings eine Steigung von 25 – 30 % hatte. Gefühlte Steigung, mindestens 100 %.
Es dauerte eine Weile, bis uns klar wurde, dass wir die Gleise überqueren mussten, um auf der anderen Seite in den Wald zu kommen. Die Routenführung war etwas verwirrend aber nach Karten-Studium und ein paar Gesprächen mit den Einwohnern, war uns dann doch klar, dass wir die Gleise überqueren mussten, denn dort lag unser Einstieg. Man konnte jetzt schon spüren, dass uns die Sonne heute sehr zu schaffen machen würde. Es war bereits sehr warm und noch nicht mal Mittag. Der Wald versprach auch nicht die gewünschte Kühlung, denn hier schien die Luft zu stehen und die Wege führten viel durch die Sonne. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange es bergauf ging, wahrscheinlich Stunden, und dann konsequent mit 10 % – 20 % bei steigenden Temperaturen in schier endlosen Kurven. Unser Vater natürlich immer vorne weg und ich höre Tom noch heute sagen: „Der ist nicht nur braun wie ein Bär, sondern auch stark wie einer“. So war es auch, aber wir hatten letztlich doch alle die Kraft, um hier durchzuhalten. Der Lohn dafür waren absolut traumhafte Aussichtspunkte mit Bilderbuch-Panoramen und Landschaft pur. Wir konnten auch immer wieder Wasserquellen finden, die Trinkwasser führten. Hier konnten wir unseren Durst stillen und unsere Wasserflaschen auffüllen.
Wasser oder Getränke waren unglaublich wichtig, denn durch die Wärme und die Anstrengung haben wir so viel geschwitzt, dass wir mehrere Liter Flüssigkeit jeden Tag trinken mussten. Wir kamen uns teilweise wie Kamele vor. Deshalb haben wir jede Möglichkeit genutzt, zu trinken und unsere Wasservorräte aufzufüllen. Besonders schön waren die Gebirgsbäche, deren eiskaltes Wasser so erfrischend war – kaltes Wasser kann ja so gut schmecken! Weiter oben schien es gut zu tauen, die Bäche waren reißend und voller Wasser – gut so, dann waren hoffentlich alle Pässe frei.
Auf 1.600 m erreichten wir den höchsten Punkt und ab da ging es wieder abwärts bis ins Tal. Also 500 – 600 Hm wieder runter, bis auf die Bundesstraße.
Das bedeutete wieder absteigen und schieben oder tragen. Über Singeltrails, Steine und immer wieder Felsen, abwärts durch den Wald. Auch diese Passage würde vielleicht manch einer fahren, aber auch hier galt wieder, kein zu großes Risiko eingehen. Wurzeln und Steine waren stellenweise glatt durch die Bäche, und wenn man hier einmal aus dem Gleichgewicht gerät und stürzt, dann kommt man erst im Tal wieder zum Stehen. Das hätte fatale Folgen gehabt, denn so ein Sturz auf dem Weg oder gar die Böschung runter, hätte das Aus für alle bedeutet. Außerdem hatten wir so auch einen besseren Blick für seine Umgebung und wir stellten wieder fest, wie gut ein warmer Tannenwald riechen kann. So schlängelte sich der Pfad durch den Wald, eine richtige Plackerei, immer wieder das Fahrrad zu schultern, über das Hindernis oder durch Geröll tragen. Das war mit Fahrradschuhen auch nicht immer so einfach, wie es sich anhört.
Diese Landschaft und die Wälder sind wirklich vielfältig. Die Sonne heizt den Boden auf und riecht so intensiv nach Holz und Nadeln. Mit den moosbewachsenen Steinen und den Sonnenstrahlen, die durch die Baumwipfel fallen, gibt das dann einen wunderbaren Kontrast und ein Lichtspiel aus einem satten grün und Sonnenlicht. Da sonst keine Wanderer unterwegs waren, konnten wir ganz allein diese Stimmung im Wald genießen. Nach ein paar hundert Metern erreichten wir wieder einen Feldweg und anschließend eine schmale Teerstraße, mit einer unglaublichen Aussicht auf das vor uns liegende Tal und die angrenzenden Gipfel.
Der Teerstraße folgend, ging es jetzt runter bis ins Tal. Ich wollte dabei ein Foto machen, habe es dann aber doch gelassen – war viel zu gefährlich. „Bloß nicht die Hand vom Lenker oder gar der Bremse nehmen“ dachte ich mir. Es ging dann sogar derart steil abwärts, dass ich mir echt Sorgen machte um meine Felgen und Bremsen. Statt Scheibenbremsen hatte ich „nur“ Felgenbremsen und war nicht ganz sicher, ob die das aushalten oder nicht doch zu heiß werden. Aber alles ist gut gegangen. Tom ist sogar noch vorgefahren, um ein Video davon aufzunehmen, wie wir den Berg runter fuhren.
Im Tal mussten wir dann auf die Bundesstraße einbiegen. Entlang dieser Straßen ist es nicht gerade optimal zu fahren, in diesem Fall war es aber ok, es waren nicht so viele Autos unterwegs. Locker ging es also die nächsten km bis zu dem Ort „See“. Mittlerweile war es über 30° C und die Hitze machte uns echt zu schaffen. Im Ort haben wir dann eine Pause eingelegt und uns in einem kleinen Geschäft mit dem Nötigsten versorgt. Ab hier fing dann der weniger schöne Teil an. In „See“ wurde die Straße neu geteert und die Atembedingungen waren dementsprechend. Dazu kam der heiße Teer, dem ich nicht trauen konnte. Irgendwie schien es, als würde der noch heiße Asphalt den Reifen zusetzen. Wegen all dem, dem Baustellenverkehr, den Lkw’s und der Hitze waren wir froh, den Ort wieder verlassen zu können. Das letzte Stück bis nach Ischgl war dazu noch geprägt von starkem Gegenwind und unbeleuchteten Autotunnels, die wir umfahren mussten. Alternativ sollte es einen Weg geben, der parallel zur Straße im Berghang entlang lief, der sogenannte „Talweg“.
Dieser Talweg entpuppte sich aber schon bald als heftige Berg- und Talfahrt im Hang. Ein nicht enden wollendes Auf und Ab auf Untergrund, der teilweise sehr kraftraubend war. Hier zeigte sich dann auch, dass eine kleine Unachtsamkeit oder fehlende Konzentration schnell zu einem Sturz führen kann. Ich hatte einen Moment nicht aufgepasst und eine schmale Wasserrinne, die quer über den Weg verlief, zu spät gesehen. Diese war nicht wirklich breit, aber doch tief genug, dass in dieser Abfahrt mein Vorderrad sofort stand. Ich war nicht extrem schnell, aber es reichte, dass sich mein Hinterrad im Zeitlupentempo anhob und ich vorne überkippte. Die Klick-Pedale sorgten noch dafür, dass ich meine Füße nicht rechtzeitig aus den Pedale lösen konnte und so machte ich einen zirkusreifen Salto vorwärts. Das ist ein Gefühl der Hilflosigkeit in den endlosen Sekunden des Kippens, in denen man realisiert, dass man nichts dagegen tun kann. Ich wüsste nur zu gerne, wer diese tückische Rinne gebuddelt hat. Am Liebsten hätte ich ihm in diesem Moment einen Tritt verpasst, dass er sich in einer geostationären Umlaufbahn um den Mars wieder gefunden hätte. Glücklicherweise war nichts passiert, Fahrer und Bike waren wohlauf. Nach dem ersten Schock meiner Mitstreiter konnte ich doch ein Grinsen in ihren Gesichtern sehen.
Ischgl liegt in der Südwestecke Tirols auf einer Höhe von 1.377 m. Es ist der bekannteste Ort des Paznaun ist nicht nur für seine Wintersportangebote berühmt. Umrahmt von den Gebirgszügen der Samnaun-, Verwall- und Silvrettagruppe liegt Ischgl am Eingang ins Fimbertal, einem der schönsten Hochalpentäler.
Für uns war Ischgl leider noch enttäuschender als St. Anton. Im Sommer ist diese Region ein Eldorado für Wanderer und Radfahrer. Es gibt endlose Wanderwege mit Hütten- und Gipfelkreuztouren sowie Trails für Biker bis in hochalpine Lagen. Diese Gegend bietet einfach alles. Leider sind wir zu einem Zeitpunkt angekommen, an dem die meisten Unterkünfte und Lokalitäten noch geschlossen waren. Es gibt wohl einen Zeitraum von einigen Wochen, in dem fast alles noch geschlossen hat und die Menschen sich von der Wintersaison erholen, bevor der Sommer kommt. Na super. Das hatte zur Folge, dass wir größte Mühe hatten, etwas zu Essen zu bekommen. Und das Mitte Juni! Glücklicherweise hatten wir unsere Unterkunft vorher reserviert und später, nach etwas Suchen, auch eine Kneipe gefunden, der wir die Küche leer gefuttert haben und bei einem Radler noch etwas Fußball gucken konnten. Das muss man sich mal vorstellen, Ischgl hätte ich nie zuvor mit einem so toten Nest verbunden.
Während dessen machten wir uns Gedanken darüber, wie wohl der kommende Tag aussehen würde. Ziel war es, an der Heidelberger Hütte vorbei über den Fimberpass nach „Sur En“ ins nächste Tal zu kommen. Von dort aus sollte es dann durch die Uiner-Schlucht bis zur Sesvenna-Hütte gehen, also über die Schweiz bis nach Italien. Unser Problem war aber der viele Schnee in diesen Höhenlagen und die damit verbundene Unpassierbarkeit der Pässe. Hier zeigte es sich wieder, wie gut es ist, sich mit den Menschen zu unterhalten. Vom Wirt erfuhren wir, dass der Fimberpass tatsächlich nicht passierbar war. Es sei zu gefährlich wegen des vielen Schnees, der noch lag. Außerdem sei die Heidelberger Hütte aus diesem Grund noch gar nicht bewirtet. Eine Alternativroute musste also her. Natürlich wäre ein Umfahren der Bergkette möglich gewesen, und die dadurch entstandene Verlängerung der Strecke hätten wir mit dem Bus überbrücken können. Wir waren aber nicht in die Alpen gereist, um sie zu umfahren, sondern um sie zu überqueren. Bei dem Versuch, eine alternative Route zu finden, haben uns dann viele Menschen geholfen, nicht nur der Wirt, sondern auch einige der Anwesenden, die unser kleines Problem mitbekommen haben. Nach einigen Telefonaten mit einzelnen Bergstationen und einer ganzen Reihe von Tipps, wussten wir, wie wir es schaffen konnten. Wir wollten jetzt über die Idalpe auf 2.308 m und von da aus über den Flimpass, der auf 2.752 m lag. Das bedeutete zwar, dass wir direkt ab dem Ortsausgang Ischgl 1.400 Hm bis zum Flimpass zu bewältigen hatten und es auch Schneefelder mit dem Rad zu überqueren galt, in einer Höhe, in der die Luft schon dünner wird, aber es war die beste Alternative, die wir hatten, und sie war machbar. Außerdem war der Gedanke, die Berge zu umfahren ein absolutes NoGo, dafür waren wir nicht hergekommen. Ich war mit dem Fahrrad noch nie in solcher Höhe, und was es bedeutet, auf einer Höhe von fast 2.800 m Leistung zu bringen, war uns allen noch nicht ganz klar. Natürlich waren wir uns des Problems der Höhe, der dünnen Luft und dem geringeren Sauerstoffgehalt schon vor unserer Fahrt bewusst. Wenn man nicht gerade in Höhenlagen wohnt, ist es aber auch schwierig darauf hin zu trainieren.
So sollte er also aussehen, der kommende Tag. Fest stand jetzt schon, es würde der bisher schwerste Tag werden
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Kommende Woche werden wir über den dritten Fahrtag berichten, die dritte Etappe…
Lesen Sie hier, wie alles begann.
Lesen Sie über die Vorbereitung.
Lesen Sie hier über unsere ersten Eindrücke.