Jede Minute draußen auf dem Meer ist eine Minute gewonnener Freiheit. Der 31-jährige Palästinenser Achmed Abu Hassira surft jede Welle, die ihm unters Brett kommt. Jeden Tag, egal wie das Wetter ist. »In Gaza gibt es keine Zukunft«, sagt er, »aber auf dem Meer fühle ich mich frei«, auf dem Meer vor der Küste des seit vier Jahren von Israel abgeriegelten Gazastreifens.
Während der Muezzin in Gaza-Stadt zum Mittagsgebet ruft, schlüpfen Abu Hassira und seine Freunde in die Board-Shorts und greifen sich die gewachsten Surfbretter. Die meisten von ihnen arbeiten als Lebensretter am Strand und verdienen damit 300 Dollar monatlich. Sie stapfen durch den Sand, vorbei an einer Wasserpfeifenbar, in der ein einziger Mann an einer Shisha unter dem Palmendach pafft. Der Strand ist fast menschenleer. Zeit also, die Wellen zu jagen. »Zum Glück haben wir hier keine Probleme mit der Hamas«, sagt Abu Hassira. Viele andere Freizeitbeschäftigungen hat die islamistische Extremisten-Partei verboten. Es werden keine Kinofilme gezeigt, Frauen dürfen nicht mehr Wasserpfeife rauchen, und palästinensische Rapper müssen sich eine Auftritts-Genehmigung von der Hamas einholen. »Aber Surfen«, erklärt Abu Hassira, »ist einfach nur ein Sport.« Wenn auch ein teurer.
Vor der israelischen Blockade fuhren die Jungs vom Gaza Surf Club nach Israel, kauften dort gebrauchte Bretter und verlängerten deren Leben auf den Wellen vor Gaza. Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 und der blutigen Vertreibung der gemäßigten palästinensischen Partei Fatah hat Israel den Gazastreifen zu feindlichem Gebiet erklärt. Seitdem ist der 41 Kilometer lange und an der dicksten Stelle nur 12 Kilometer breite Landstrich abgeriegelt. Eine israelische Sperranlage umgibt die rund 1,5 Millionen Menschen. Surfbretter schafften es nicht durch die beiden israelischen Checkpoints, auch nicht durch die Schmuggeltunnel zwischen Gaza und Ägypten. Dass seit diesem Sommer jedes der 24 Mitglieder des Clubs ein eigenes Brett besitzt, verdanken die palästinensischen Wellenreiter einem Israeli und einem Amerikaner.
80 Kilometer oberhalb von Gaza, am israelischen Topsea-Strand im Norden von Tel Aviv, kommt Arthur Rashkovan barfuß und mit einem Surfbrett unter dem Arm angelaufen. »Das ist mein Heimatstrand«, sagt der 30-Jährige. »Ich surfe hier, seit ich 15 bin.« Er blickt aufs Meer hinaus. In der nahen Strandbar werden weiße Sonnenliegen im akkurat geharkten Sand aufgereiht. Jogger sind auf der geteerten Strandpromenade unterwegs. In der Bucht lauert ein kleines Rudel Surfer auf die nächste Welle. Die weißen Spitzen der Bretter und braun gebrannte Oberkörper ragen aus dem Wasser. Auch hier ist es noch still.
Rashkovan, der Surflehrer, gründete vor drei Jahren mit der kalifornischen Surflegende Dorian Paskowitz die Organisation »Surfing for Peace«. Paskowitz, ein ehemaliger Arzt, der mit seiner elf-köpfigen Familie in Wohnmobilen von Strand zu Strand tingelt, hatte im Juli 2007 einen Artikel in der Los Angeles Times von zwei palästinensischen Surfern aus Gaza gelesen, die sich ein Brett teilen müssen, um ihrer großen Leidenschaft nachgehen zu können. Paskowitz rief sofort seinen Freund Rashkovan an. Die beiden beschlossen, Bretter zu schicken. Dass es drei Jahre brauchte, bis sie ankommen würden, ahnte Rashkovan damals nicht.
»Uns Surfer verbindet etwas ganz Spezielles«, erklärt der Israeli, während er die Brandung beobachtet. »Wenn du mal gemeinsam mit jemandem im Tunnel einer großen Welle gesurft bist, dann ist das eine Erfahrung, die du nur mit ihm teilst.« Solidarität unter Surfern sei also Ehrensache, jenseits aller politischen Differenzen. Schnell waren Dutzende von privaten Spendern und Surffirmen aus den USA und Israel gefunden, die Neoprenanzüge, Wachs und 24 neue Bretter für Gaza spendeten. Matthew Olsen, noch ein Surfer-Freund aus Kalifornien, organisierte den Transport. Im Mai 2008 erreichte ein voller Container Israel – und damit auch den Nahostkonflikt, der alles durchdringt.
Nach wochenlanger Zollprüfung gaben die israelischen Behörden die Lieferung zwar frei, eine Einfuhrgenehmigung nach Gaza aber bekamen die Surfer nicht. Wegen des Embargos. Die drei fassten einen waghalsigen Plan.
Während Raketen von Gaza ins israelische Sderot flogen, reisten die Amerikaner Olsen und Paskowitz mit vier Brettern und einem Koffer voller Neoprenanzügen, T-Shirts und Shorts zum Grenzübergang: »Wir wollen surfen gehen«, erklärten sie dem israelischen Wachposten – und der ließ sie passieren. Als sie Achmed Abu Hassira und seine Freunde vom Gaza Surf Club erreichten, brachen alle zusammen in Tränen aus.
2008/09 führte Israel Krieg in Gaza. An die Lieferung der restlichen Surfbretter war nicht mehr zu denken. Erst ein tödlicher Zwischenfall im Mai dieses Jahres brachte Bewegung in die Fronten: Die Mavi Marmara, ein türkisches Schiff mit Hilfsgütern für die Palästinenser in Gaza, das die Seeblockade vor der Küste zu durchbrechen suchte, war von der israelischen Marine aufgebracht und neun Aktivisten waren erschossen worden. Die Weltöffentlichkeit reagierte empört. »Nach dieser Geschichte überarbeitete Israel die Liste jener Güter, die nicht nach Gaza eingeführt werden dürfen«, sagt Rashkovan. »Surfbretter standen plötzlich nicht mehr darauf.« Olsen und Paskowitz konnten die Bretter am Grenzübergang überreichen.
Rashkovan, der Israeli, darf die Grenze nach Gaza aus Sicherheitsgründen nicht passieren. Die Surfer kennt er deshalb nur vom Telefon. »Ein paar von ihnen sprechen ein bisschen Englisch und Hebräisch«, sagt er. In den letzten Jahren haben sie regelmäßig telefoniert. »Wir sind Freunde geworden«, Rashkovan strahlt. Eine Geste habe ihn besonders berührt: »Zum Dank für die Surfbretter haben die Jungs mir einen bemalten Teller geschenkt«, erzählt er. »In der Mitte das Logo von Surfing for Peace und am Rand unsere Namen.« Nun hängt der Teller in seinem Wohnzimmer. Als nächstes will er gemeinsam mit den Freunden aus Gaza nach Hawaii fahren und mit ihnen den »Aloha Spirit von Liebe und Frieden« erleben: »Ich will mit ihnen ins Wasser, will ihnen zeigen, was es bedeutet, den Lebensstil eines Surfers zu leben.« Eine Ausreisegenehmigung haben die Palästinenser noch nicht. Das Verfahren ist kompliziert, die Hamas muss zustimmen, und Rashkovan braucht die Genehmigung des Militärs. »Ich hoffe, dass uns das im Laufe des nächsten Jahrs gelingt.«
Dass er den seit mehr als sechzig Jahren währenden Konflikt zwischen Israelis und Arabern überwinden kann, glaubt Rashkovan natürlich nicht. »Aber ich gewinne Freunde, die eigentlich meine Feinde sein sollten«, sagt er, »denn im Wasser sind alle Konflikte um Land egal.«
Am Strand von Gaza schauen auch Achmed Abu Hassira und seine Freunde hinaus aufs Meer.
Das Mittelmeer ist ein bisschen rau heute, die Wellen brechen unregelmäßig. Hinter den Surfern liegt Gaza-Stadt, ein heißer, staubiger beengter Raum, den viele der jungen Leute am liebsten verlassen würden. Der Strand hingegen ist ein Streifen Freiheit. Achmed sagt: »Wenn ich dort draußen bin, fühle ich mich, als würde ich fliegen.«
Ein paar Seemeilen weiter draußen bewacht die israelische Marine die Gewässer, in der Stadt in ihrem Rücken haben sie keine Zukunft. Sie alle wollen weg aus Gaza. Es ist sogar egal, ob es an dem neuen Ort Wellen gibt.