Seit mehr als 100 Jahren ist die Fotografie zu einer Art Volkssport geworden. Jeder der sich damit beschäftigt hat gewiss schon einmal den Spruch gehört, dass alles was es zu fotografieren gibt, bereits schon einmal fotografiert wurde. Destruktiver Sarkasmus oder Realität? Ich genieße es, nach mehr als 30 Jahren ernsthafter Fotografie, ständig neue Dinge zu entdecken. Entweder leben ich in einem Paralleluniversum oder die destruktiven Sprücheklopfer sind schief gewickelt. Laszlo Moholy-Nagy, der Bauhaus-Fotograf schlechthin, hat es trefflich auf den Punkt gebracht: Fotografie dient der Untersuchung und Darstellung des Phänomens Licht. Das fotografische Bild und seine Funktion ist die Präsentation des Lichts.
Wenn ich an dieser Stelle Moholy-Nagy bemühe, dann sollte ich auch den Kontext seiner Aussage berücksichtigen. Er versuchte die Beziehungen von Malerei und Fotografie zu klären. Seine Erkenntnis war so eindeutig wie auch brillant. Malerei ist Gestaltung der Farbe – Fotografie die Darstellung des Lichts. Ergo dreht es sich nicht vordergründig um die Festlegung der richtigen Belichtungszeit, sondern viel mehr um das Entdecken des Lichts. Die Farbe ist dabei nur ein Nebeneffekt. In der Malerei wird Farbe zur Hauptsache, das Licht spielt eine untergeordnete Rolle. Dabei ist egal, ob ein Bild in Schwarzweiß oder Farbe gehalten ist … Hauptsache man akzeptiert, dass ein Bild gemalt oder fotografiert sein kann, aber durch die Art seiner Entstehung seine Funktion bekommt.
Nun frage ich ernsthaft, ob tatsächlich alles um uns herum schon einmal in jedem Licht fotografiert wurde. Ich kann es nicht glauben, weil erst rund 100 Jahre zu Verfügung standen und dummerweise alles Dinglich durch Zeit und Mode einem ständigen Wandel unterliegen. Solange der Sonnenaufgang jeden Tag ein wenig anders aussieht, der Sonnenuntergang nicht jeden Tag gleich ist, Kerzen unterschiedlich hell brennen und in der Kneipe die eine oder andere Lampe durchbrennt, habe ich noch nicht alles fotografiert. Lediglich mit einem Blitz könnte ich schneller alles durchfotografieren, um mich anschließend der Malerei zuzuwenden. Aber keine Panik, Pinsel sind seit der Pionierarbeit von Tilla und mir für viele Fotografen schon lange keine unbekannten Wesen mehr. Mit Kamera und Pinsel können wir nochmals von Vorne beginnen, weil noch nicht alles in eine neue Bildgestaltung gebracht wurde.
Was allgemein als Fotografie gilt, ist in sich eine komplexe Angelegenheit. Weder Kameratechnik noch Bildbearbeitung sind singuläre Themen. Die Fotografie lebt vom Pluralismus der Techniken. Auch wenn in Zukunft vielleicht alles einmal fotografiert sein wird, wird nicht alles in jedem möglichen Bildstil bearbeitet worden sein … verwickelter kann man einen Satz nicht gestalten, aber das liegt an der Unlogik der Hypothese, die das Unendliche begrenzen möchte. Wer die „alles schon einmal fotografiert“-These unterstützen will, muss auch für die strenge Normung des Lichts, der Fotosituationen und Bildbearbeitung eintreten. Ansonsten bleibt die Fotografie, was sie ist: Ausgelebter Individualismus mit Tendenz zur Anarchie.