Exakt heute vor vierzig Jahren erboste sich Heinrich Böll. Als Titelzeile bei der BILD-Zeitung las er, dass die Baader-Meinhof-Bande weitermordete - einen Polizisten habe sie nun erschossen. Der darunterstehende Bericht aber gab sich vorsichtiger. Dort las man, dass man noch keine konkreten Anhaltspunkte habe, wer für die Tat verantwortlich sei. Diese Diskrepanz zwischen Schlagzeile und Bericht, sie machte Böll wütend und er schrieb sein verhängnisvolles Essay, das nach einigen Abwandlungen den Titel "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" erhielt und am 10. Januar 1972 im Spiegel erschien: "Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß.", schrieb er unter anderem.
An diesem 23. Dezember 1971 nahm die Jagd auf Böll seinen Anfang. Sein Essay nahm man ihm übel. Er schalt darin den gesellschaftlichen Umgang mit dem Terror jener Tage, freilich auch die Berichterstattung, die tendenziös und eingleisig verlief und keinerlei Kritik an den rechtsstaatlichen Kniffen übte, die die Politik anwandte. Einerlei. Bölls Fehler war, dass er die Terroristen nicht aus voller Seele beschimpfte, sondern sie verstehen wollte und die Mechanismen, die um sie herum wirkten, scharf kritisierte. Der "linke Biedermann" erntete bürgerliche Wut. Er sollte seine Präsidentschaft beim Internationalen P.E.N. abgeben. meinte Hans Habe. Man hieß ihn einen "Anwalt der anarchistischen Gangster" und einen "salonanarchistischen Sympathisanten". Und der Journalist Gerhard Löwenthal nannte ihn einen "Sympathisanten dieses Linksfaschismus", der "nicht einen Deut besser als die geistigen Schrittmacher der Nazis" sei.
Kleingeistige Produkte, die Böll nur ertragen musste, weil er sich nicht für die Hatz hergeben wollte und sich das eigene Denken bewahrte. Einige Monate später rehabilitierte ihn die Schwedische Akademie, die ihm den Nobelpreis verlieh. Prompt sahen Union und Springer darin eine Verschwörung der Sozialistischen Internationale, nachdem ja bereits ein Jahr zuvor Willy Brandt den Friedensnobelpreis für seine versöhnliche Ost-Politik zugesprochen bekam.
Vierzig Jahre alt wird heute die Wut dieses mutigen Schriftstellers. Was war sein Einsatz wert? Für Menschen, die wie er, nicht in den Katechismus der Hetzer miteinstimmen, ist er Mutmacher. Selbst der große Böll habe doch Demütigungen erleiden müssen, tröstet man sich. Geändert hat diese Geschichte dennoch wenig. Springer berichtet wie eh und je, schustert Verbrechen unhinterfragt nebulösen Terroristen zu. Man denke nur an Utøya, das man zunächst und ohne konkrete Anhaltspunkte islamistischen Attentätern in die Schuhe schob. Die Situation mag verfahrener sein als damals. Könnte Böll denn heute noch im Spiegel ein solches Essay unterbringen? Damals hatte er mit Augstein einen mächtigen Verbündeten - heute berichtet der Spiegel wie es Springer tut. Der Stern auch. Alle sind sie der BILDisierung mehr oder weniger erlegen.
Was am heutigen Tage augenfällig wird: dass sich nach vierzig Jahren wenig geändert hat. Außer vielleicht, dass Springer heutzutage Bölls Nobelpreis feiert und seine Bücher verscherbeln will. Sonst alles wie gehabt. Die Presse verurteilt vorschnell - und das, weil es mittels Internet einen Kampf um die erste Meldung gibt, viel schneller noch als einstmals. Der Spiegel kann sich Sachlichkeit gar nicht mehr leisten, kann nicht abwarten, bis die Recherche die Wahrheit ergibt - da hatte Springer einen gewaltigen Vorteil, denn die Unsachlichkeit und Schluderei, die mit der Wettbewerb um die schnellste Schlagzeile ins journalistische Leben trat, wurde bei Springer schon vor vierzig Jahren betrieben. Schon damals erfüllte man die Bedingungen, um vorschnelle Schlagzeilen zu publizieren: die Schlamperei und die Sensationsgeilheit...