Mit den Informationen von Stephan V. beschäftigt sich mittlerweile die portugiesische Kriminalpolizei Policia Judiciaria (PJ). Ihr übertrug das Lissaboner Innenministerium in dieser Woche die Zuständigkeit. Das bestätigte die österreichische Konsulin in Lissabon, Daniela Boltmann, der Mutter der Vermissten am Freitagmittag. Bemühungen der Polizeikollegen von der Republikanischen Nationalgarde GNR hatten zuvor nicht zu einem sichtbaren Erfolg geführt.
Protokollangaben, die der Redaktion vorliegen, deuten darauf hin, dass es unmittelbar nach der Vermisstenmeldung in der Kreisstadt Vila do Bispo am 29. August (nur) diese Aktivitäten gab:
30. Juni: Die Gegend um den Ort von Julias Verschwinden wird "durchforstet". Mehrere Ortsansässige werden befragt; es werden ihnen Fotos von Julia gezeigt. Ein Dorfbewohner berichtet, die Gesuchte tags zuvor in Richtung des Ortes Budens gehen gesehen zu haben. Beamte gehen den Weg bis nach Budens ab, finden die Vermisste aber nicht. Fünf Feuerwehrmänner, ein Fahrzeug und rund zehn Freunde der Vermissten helfen bei der Suche. Die Krankenhäuser in Lagos und Portimão teilen auf Polizeianfrage mit, dass die Vermisste in keiner der Notfallstationen aufgenommen worden ist. 1. Juli: Die Polizei unternimmt "verschiedene Maßnahmen", um die gesuchte Julia W. zu finden. Vormittags werden "alle Orte" durchsucht, in die sich die Vermisste zum Übernachten hätte zurückziehen können. Die Polizei spricht auch weitere Personen an und zeigt Fotos von Julia - aber ohne Erfolg. Nachmittags sucht die Polizei südlich der viel genutzten Nationalstraße N 125, einer Hauptverkehrsader der Algarve. Die Beamten gehen an die Stellen, "wo üblicherweise Menschen zu finden sind, die mit Bullys und Wohnmobilen unterwegs sind und darin wohnen". Genannt werden die Parkplätze an den Stränden Praia do Barranco, Ingrina, Zavial und Furnas. Mehrere angesprochene Personen sagen aus, die Gesuchte nicht gesehen zu haben. Wie die Beamten bemerken, hängen an einigen Mülltonnen dieser Parkplätze bereits bebilderte Aushänge mit Angabe der Polizei-Telefonnummer. 2. Juli: Der Polizeibericht referiert wieder "verschiedene Maßnahmen". So wird auf dem Orbitur-Campingplatz in Sagres nachgeforscht, ob die Vermisste eventuell dort gewesen sein könnte. Das wird verneint. Danach seien der gesamte Bereich Pena Furada und das Gebiet um den Stausee in Vila do Bispo "durchsucht" sowie Personen unter Vorlage von Fotos befragt worden - wieder ohne Erfolg.Das scheint in den wichtigen ersten Tagen nach dem rätselhaften Verschwinden der jungen Österreicherin tatsächlich alles gewesen zu sein, was an Polizeiaktivitäten aktenkundig gemacht wurde. Wobei zu berücksichtigen ist, dass die Polizei auch immer davon ausgehen muss, dass ein erwachsener Mensch wie Julia W. seinen Aufenthaltsort frei wählen kann und ihn möglicherweise bewusst nicht mitteilen möchte...
Wie jedoch jetzt aus informierten Polizeikreisen verlautet, soll nunmehr die portugiesische Kriminalpolizei PJ den Fall - vom Zeitpunkt und Ort des Verschwindens der Österreicherin am 28. Juni in Pedralva (Kreis Vila do Bispo an der West-Algarve) an - "vollständig neu untersuchen". Auch Europol ist eingeschaltet.
Algarve-Vermisstenfall: Führt eine Spur ins Rotlicht-Milieu?
Stephan V. übermittelte in den vergangenen Tagen der Redaktion von „ Algarve für Entdecker " sowie der portugiesischen und deutschen Polizei Fotos von einem Mann, dessen Vornamen er mit R. angibt und der einen „Gentleman's Club" in der Region betreibe. Diesen bezichtigt er, junge Frauen in einer Stadt der Zentral-Algarve „festzuhalten". Er zeigte uns bei einem Treffen sogar ein Foto von dem betreffenden Haus, übermittelte dessen genaue Koordinaten auf Google Maps. Beides stellte der Mann aus Willich am Niederrhein, der bereits seit 30 Jahren Urlaub an der Algarve macht und sich derzeit dort eine Villa zulegt, auch der Polizei zur Verfügung.
R. sei ihm aus einer früheren Begegnung bekannt, berichtete uns der gelernte Landwirt, der seine Geschäfte derzeit im Bereich Wohnungseinrichtungen macht. Damals, vor vielen Jahren, habe R. bereits die in einem Algarve-Hotel arbeitende Animateurin Maria gezwungen, für ihn „anzuschaffen". Maria sei damals schwanger gewesen und auch in diesem bestimmten Wohnhaus festgehalten worden, in dem er jetzt Julia W. vermutet. Aber zusammen mit seinem Freund M., einem inzwischen verstorbenen Architekten, hat Stephan V. nach eigenen Angaben R. zur Freilassung der jungen Frau gezwungen.
Er habe R. jetzt sofort wiedererkannt, als er diesen im August in der Nähe eines Algarve-Yachthafens und zwischen zwei großen Hotels mit Julia W. zusammen entdeckte. „Der hat zusammen mit vier anderen Julia umkreist. Sie stand in der Mitte. Alle haben geschwiegen", so der Beobachter.
Mehrere Leser gaben bereits Hinweise im jüngsten Algarve-Vermisstenfall
Mit 95 Prozent gibt er die Wahrscheinlichkeit an, dass die junge Frau Julia war: „Ich habe ein geschultes Personen-Gedächtnis", erläutert der breitschultrige Endvierziger, der aussagt, früher im Rheinland Polizei-Spezialkräfte in Kampfsportarten geschult zu haben. Auf die Belohnung von 5.000 Euro, welche Julias Familie für konkrete Hinweise ausgesetzt habe, sei er nicht aus, betont V. Er sei aber einfach „gegen alles, was mit Menschenhandel, Prostitution, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und ähnlichen Taten zusammenhängt".
Am Freitagnachmittag, 6. September, habe er auf Bitten der österreichischen Botschaft seine Beobachtungen auch auf dem Kriminalkommissariat in Portimão gemeldet - auf Englisch, berichtet Unternehmer Stephan V., der sich gerade zum Urlaub in Carvoeiro aufhielt. Zuvor war er bereits auf anderen Polizeiwachen in Carvoeiro und Portimão gewesen, wurde aber dort weiterverwiesen. Auch das Landeskriminalamt Salzburg informierte der Mann aus Willich. Mit Konsulin Daniela Boltman von der österreichischen Botschaft in Lissabon war der Deutsche ebenfalls in Kontakt.
Polizei geht Angaben von Stephan V. im Algarve-Vermisstenfall nach
Eine Veröffentlichung seines Materials stellte die Redaktion zurück, um der Polizei Gelegenheit zu geben, die Hinweise zu überprüfen. Wie wir zwischenzeitlich von einer mit dem Fall betrauten Person erfuhren, bestätigten portugiesische Polizeibeamte, die das Haus vor Ort überprüft haben sollen, die Angaben von Stephan V. über dort festgehaltene und im Dienste eines so genannten Gentleman's Club stehende Frauen nicht. Stephan V. dazu: "Ich glaube das nicht. Es geht um Menschenleben. Das ist kein Spaß. Wäre das meine Tochter, hätte ich die längst aus dem Haus geholt". Er finde es "nicht korrekt" und es rege ihn auf, dass man eine Meldung mache, die "nicht der Wahrheit" entspreche, so der deutsche Polizei-Informant.
Zwei weitere Leser hatten die GNR-Polizei am 29. August auf eine angebliche Sichtung von Julia im Gebiet von Quarteira aufmerksam gemacht. Doch auch in diesem Fall stellte sich das Ganze als Fehleinschätzung heraus: Die junge Frau entpuppte sich als Niederländerin, die in der Gegend wohl bekannt war.
Das Vorgehen der Polizei im Algarve-Vermisstenfall ließ bislang Wünsche offen
Zur bisherigen Ermittlungstaktik sowie dem Vorgehen der Polizei bei der Suche nach Julia W. in Portugal äußert sich nicht nur Stephan V. skeptisch - um es vorsichtig auszudrücken. Auch Leserin Ruth K. aus Wien zeigt sich in ihren Erlebnissen „recht ernüchtert". Sie hatte einer Polizeiwache in der österreichischen Hauptstadt berichtet, wie sie Mitte August vor einem Hotel in Barcelona zweimal eine „stark verwirrte und desorientierte junge Frau" sah, die - vermutlich suchtkrank - vor der Herberge ein provisorisches Nachtlager aufgeschlagen habe.
"Nicht unhöflich, aber sichtlich etwas genervt"
Die junge Frau habe „durchaus Ähnlichkeit" mit der gesuchten Julia W. aufgewiesen, berichtete die Wienerin dem Beamten. Dieser habe "zwar nicht unhöflich, aber sichtlich etwas genervt" ein Protokoll der Aussage erstellt. Auf die Frage, ob man sie als Informantin auf dem Laufenden halten werde, erfuhr sie, dass man sich bei ihr melden würde, wenn weitere Fragen auftauchten.
Ruth K. meldete daraufhin ihre Beobachtung zusätzlich in der Abteilung Vermisstenfälle des österreichischen Bundeskriminalamts. Der Beamte „hörte sich die Geschichte an, kannte auch den Fall und verwies mich an die nächste Polizeidienststelle - wo ich ja schon war...", so die Wienerin. Und sie fügt an: „Ich kann daher leider nicht sagen, in wieweit auf meine Aussage seitens der Polizei reagiert wurde".
Im Algarve-Vermisstenfall ist auch die Politik eingeschaltet
Ähnlich äußert sich Elfriede W., die Mutter der Vermissten. Die Ungewissheit und die Unklarheit über die Effizienz der Suche nach ihrer Tochter zerren spürbar an ihren Nerven und denen ihrer Familie. Anders als in den Jahren zuvor meldete sich zu ihrem Geburtstag die Tochter nicht mit Glückwünschen. Noch 2018 hatte die Salzburgerin ein Foto mit dem Gruß "Alles Gute, Mama" von den Algarve-Klippen übermittelt.
Die Mutter nutzte in den vergangenen Tagen politische Kontakte ins Umfeld des Salzburger Landeshauptmanns Wilfried Haslauer, um Unzufriedenheit mit der Arbeit der Behörden zu Protokoll zu geben. „Schon mehrmals bin ich von der Redaktion Algarve für Entdecker früher über Ereignisse und Entwicklungen informiert worden, als von amtlicher Stelle", berichtete uns Elfriede W. telefonisch. Jetzt ist sie allerdings hoffnungsvoll, dass die portugiesische Kriminalpolizei endlich gründlich und umfassend ermittelt, "wenn auch viele Spuren in der Zwischenzeit leider unbrauchbar geworden sein dürften".
Die Irritationen darüber, dass bislang nicht viel mehr geschehen ist, teilen auch Tybo G., der Ex-Freund von Julia W., und dessen Freundeskreis. Dieser hat die Facebookseite „Help Finding Julia" online gestellt, welche Informationen über Sichtungen der jungen Österreicherin sammelt. Zudem wurden Suchplakate angefertigt und in der Region verbreitet, sogar bis hoch in den portugiesischen Norden, nach Porto.
Algarve-Vermisstenfall lange nicht ernst (genug) genommen?
Dem britischen Magazin Portugal Resident berichtete Tybo jetzt, dass er gebeten worden sei, bei der Polizei in der Kreisstadt Vila do Bispo eine neue Aussage zu machen. Das dürfte eine Folge des Zuständigkeitswechsels hin zur Kriminalpolizei sein. Eine Bekannte des 31-jährigen Belgiers sagte, sie finde es "absurd", wie lange es gedauert habe, „bis der Fall ernst genommen wurde".
Jetzt hoffen alle Beteiligten darauf, dass die portugiesische Kriminalpolizei nach Übernahme der Verantwortung für den Fall alle vorhandenen Hebel in Bewegung setzt, um die junge Österreicherin bald aufzufinden und die Vorgänge nach ihrem Verschwinden aufzuklären. "Wie ich höre, wird endlich wirklich in alle Richtungen ermittelt und auch Europol kümmert sich ja inzwischen um den Fall", so Elfriede W.
Im Netzwerk SIRENE ist der Algarve-Vermisstenfall dokumentiert
Wie die österreichische Botschaft bestätigt, sind Angaben zu Julia W. mittlerweile auch im verschlüsselten SIRENE-Netzwerk gespeichert. In diesem sind alle Ansprechstellen der Polizeibehörden aus allen 28 EU-Mitgliedsstaaten sowie aus Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz organisiert. Es ist Teil des Schengener Informationssystems (SIS), Europas größter Polizeidatenbank. Anfang des Jahres 2019 waren mehr als 79 Millionen Personen und Sachen dort im SIS aufgeführt. Julia W. ist nun ebenfalls darin registriert.
"Ob es nun der jugendliche 'Ausreißer' ist, der schon Stunden nach seinem Verschwinden auf seinem Weg in den Süden Europas an einer Autobahn entdeckt wird, oder der Schwerstkriminelle, der anlässlich einer Personenkontrolle festgenommen werden kann, in vielen Fällen spielt das SIS eine entscheidende Rolle", heißt es dazu auf einer Internetseite des deutschen Bundeskriminalamts.
Österreichs Botschaft in Lissabon lehnte eine weitergehende Einschätzung der neueren Entwicklungen ab und verwies - in Abstimmung mit der Presseabteilung des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres in Wien - auf die portugiesischen Behörden und auf die Angehörigen von Julia W. Mit beiden sei die Botschaft "weiterhin in intensivem Kontakt".