Alexander Solschenizyn – Der Archipel Gulag

 

Alexander Solschenizyn – Der Archipel GulagIch habe noch nie ein Buch so voller Hass, voller Wut, voller Zynismus gelesen. Und habe doch schon vieles gelesen…

Aber es ist etwas sehr anderes, über den Stalinismus zu lesen oder – wie hier – von ihm. Erlebt. Erlitten.

Alexander Solschenizyn wurde mit diesem Buch bekannt, ja berühmt und erhielt auch dafür 1970 den Literaturnobelpreis. Das war ganz sicher eine vor allem politische Entscheidung – in der Hochzeit des kalten Krieges. Und vielleicht wäre sogar nachfragbar, ob er gerechtfertigt war; ist doch das Buch nicht unbedingt „feine, hohe“ Literatur.
Sondern der Aufschrei eines Menschen; der die Stimme erhebt für Millionen von gequälten, zertretenen, zu Unrecht verhafteten und ausgebeuteten Menschen.

Solschenizyn ist ein gläubiger Mensch. Und hier – an dieser Stelle – gebe ich zu, dass der Glauben den Zweck hatte, ihm das Überleben in den Gefängnissen, den Lagern, der Verbannung zu ermöglichen.

Der Autor selbst weist im letzten Kapitel des Buches auf seine (notwendige) Unvollständigkeit hin. Doch allein das, was er – zwischen eigenem Erleben und der Beschreibung gesellschaftsweiter Umstände wechselnd – beschreibt, genügt, um die Unmenschlichkeit eines Systems darzustellen, dessen menschen verachtenden Wurzeln auch mir bisher fremd waren.
Ich habe in den letzten Jahren einige Bücher über den Stalinismus gelesen und mein Geschichtsbild daher bereits einigermaßen revidieren müssen. Ich habe inzwischen gelernt, den Dreck hinter der Fassade zu sehen.
Doch hier, dieses Buch, ist völlig frei von jeglicher Fassade. Es wirft den Leser mitten hinein in die tiefste Dunkelheit, in den stinkenden Morast.
 
Es gab Momente, da wollte ich das Buch weglegen, wegwerfen; so unerträglich war mir das Gelesene. Einige Male stiegen mir die Tränen in die Augen. Daran, an den Sieg des ach so glorreichen Sozialismus, habe auch ich geglaubt.
Doch zu welchem Preis. Und auf wessen Kosten?!

Ich denke, man muss dieses Buch lesen um zu begreifen, zu welch Unmenschlichkeit der Mensch fähig ist – im Namen der Menschlichkeit; im Namen irgendwelcher großartiger Ideologien. Und so schließt sich (für mich) der Kreis: es ist völlig gleichgültig, was auf der Verpackung steht, ob Sozialismus oder Kirche – Macht macht unmenschlich.
Und keine Ideologie hat mehr Ähnlichkeit mit der Theorie, der sich entstammt, in dem Moment, da Menschen Macht bekommen.

Solschenizyn schreibt an einer Stelle klarsichtig, dass die Industrialisierung der Sowjetunion aus dem Boden gestampft wurde – und die GULAG-Insassen in den Boden.

Es tut mir körperlich weh, zu erfahren, dass das „Große Vorbild“, der „Große Bruder“, die „ruhmreiche Sowjetunion“ ein Staat war, der die Menschenrechte mit Füssen trat. Und nun mag niemand kommen und von den (sicherlich auch vorhandenen) positiven Erfolgen reden. Zu welchem Preis? Auf wessen Kosten? Nein, wenn ich letztens bei der Lektüre von Rudolf Leonards Buch noch schrieb, dass die (von mir erlebte) DDR das vermutlich stalinistischste Land des Ostens war… dann revidiere ich das jetzt. Nichts, gar nichts von dem Erlebten, von dem bisher Aufgedeckten kommt an diese Menschenverachtung, an dieses vollständige Versagen der Menschlichkeit heran. Dagegen war die DDR ein Musterländchen. Trotz Bautzen, trotz Hohenschönhausen. (Womit ich nichts gegen die hier Leidenden gesagt haben will, deren Leid nicht abwerten will.)

Ich bin – wie bereits erwähnt – nicht mit Allem einverstanden, was Solschenizyn schreibt; ich bin kein gläubiger Mensch und kann drum die „Erlösung“ von Unrecht nicht darin sehen, dass die Kirchen mächtiger werden sollen. Seine aus den Erfahrungen von Haft, Lager und Verbannung gezogenen Schlüsse kann ich nicht nachvollziehen. Dessen ungeachtet verneige ich mich nachträglich schon allein deshalb vor Solschenizyn, weil er dieses Leid überlebte, es beschrieb und publik machte. (Obwohl er vermutete, dass das Buch im satten Westen nicht geglaubt werden würde…)

In den Abschnitten und Kapiteln, in den der Autor historische Vergleiche zieht und Zahlen (die – das liegt in der Natur der Sache – kaum zu kontrollieren sind) nennt, gibt er für künftige Historiker Vorgaben, wo Forschung und Aufklärung ansetzen müssten. Im aktuellen Russland – so steht zu vermuten – wird dieser Ruf vermutlich nicht gehört werden. Stellt man dort doch wieder Stalinbüsten auf und verehrt den „Großen Lehrmeister“… einen, der millionenfach Mord, Vertreibung, Verschleppung, Verbannung beauftragte.
Aber Stalin war es nicht allein. Und die Willfährigen wurden – bis auf wenige Ausnahmen – nicht einmal vor ordentliche Gerichte gestellt.
So verwundert es nicht sehr, dass unter einem Präsidenten (und heutigen Ministerpräsidenten) Putin Stalin zu neuen Ehren kommt. War Putin doch selbst KGB-Chef und unter anderem verantwortlich „für das Unterdrücken von Dissidenten-Tätigkeiten in seiner Heimatstadt.“ (Wikipedia)

Aus der Geschichte lernen?
Das scheint immer mehr unmöglich. Sowohl in Russland aber auch in einem Europa, in dem die Rechten mehr und mehr an Zulauf gewinnen.


Nic

PS: Ich weiß nicht, was geschehen wäre oder wie (und ob) sich mein Leben verändert hätte, hätte ich dieses Buch vor mehr als 20 Jahren gelesen… Ich weiß nicht einmal, ob ich es wissen möchte. Vermutlich jedoch wäre mein Weltbild zusammengebrochen.


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