Albtraumbilder

Von Martin Gehring

Es heißt, im Traum könne man fliegen. Aber nicht immer. Manchmal stürzt man auch einfach ins Bodenlose und wacht dann auf. Oder auch nicht, denn Träume haben ihre eigene Physik. Vielleicht bin ich wach, vielleicht träume ich auch. Ich weiß es nicht mehr, aber ich werde es gleich herausfinden. Ich sitze an der Kante des Flachdaches eines hohen Gebäudes unserer Stadt und werde in den nächsten Minuten springen. Danach werde ich wissen, ob ich in einem Traum gefangen bin. Soviel ist sicher.
Ich habe die Metalltür des Zugangs zum Dach mit einer herumliegenden angerosteten Eisenstange verriegelt. Acht Stockwerke unter mir lebt die Straße. Ich betrachte ohne Interesse die Menschen, die achtlos vorbeilaufen. Autos, die sich im Schritttempo über die Fahrbahn schieben. Ein Hund an der Leine sieht zu mir hoch, doch sein Herrchen zerrt ihn eilig weiter. Es riecht nach Stadt am Morgen.
Nimmt man Gerüche wahr, wenn man träumt? Ich habe nie darauf geachtet, doch es wird wohl so sein. Um mich herum liegt der Inhalt meiner Taschen verteilt: Schlüssel, Feuerzeug, Münzen, Zigaretten, das Handy. Um die Ecke steht mein Auto. Heiter bis wolkig, hat der Mann vom Wetterbericht gesagt. Er hatte recht. Hier oben weht eine kühle Brise. Das Handy ist der Schlüssel zum Ganzen und Teil des Rätsels.
Der Traum der letzten Nacht. Ich bin in meiner Stadt. Doch sie hat sich verändert. Die Stadt ist zerstört. Alle Gebäude sind bis auf die Grundmauern geschleift. In der Luft hängt Staub, der sich auf meiner Kleidung absetzt. Unter den Schuhsohlen knirschen Glasscherben. Die Bäume sind weg. Wo sie standen, sind Löcher im Boden, ist der Asphalt gewaltsam aufgerissen. Übrig blieben nur noch Zweige und Blätter, überall Blätter. Die Menschen sind ebenfalls verschwunden. Über den Ruinen der Stadt liegt, wie ein Leichentuch, gespenstische Stille. Durch den Staub mache ich in der Ferne schemenhaft einen gewaltigen Schatten aus. Als ich darauf zugehe, schält sich die mächtige Kathedrale meiner Stadt aus dem Dunst. Es scheint so, als wäre sie das einzige Gebäude, dass die Katastrophe unbeschadet überstanden hat.
Der große Platz vor der Kathedrale ist mit Papier übersät. Prospekte, Wurfpost, Akten, Briefe. Die Blätter wirbeln durcheinander, obwohl es windstill ist. Die Luft riecht alt. Ich bücke mich nach dem Prospekt eines Supermarktes. Die Farben sind verblichen, das Papier zerbröselt leise knisternd in meiner Hand. Ich schmecke den Staub in meinem Mund. Schließlich stehe ich vor dem Hauptportal der Kirche. Ich ertaste das Handy in meiner Tasche. Kein Netz. Natürlich, doch der Akku ist aufgeladen. Ich beginne, alles zu fotografieren. Den Platz mit dem wehenden Papier und die leere Weite der verwüsteten Stadt. Durch den Staub scheint diffus eine orange-graue Sonne. Ich fotografiere mich selbst und dann die Sonne.
Plötzlich bemerke ich eine Bewegung im Augenwinkel. Auf den Stufen der Kathedrale kauert, an die Wand gedrückt, eine Frau. Sie trägt ein staubbedecktes blaues Gewand. Im Arm hält sie ein Bündel. Es ist ein Baby. Ich trete näher. Die Frau blickt teilnahmslos durch mich hindurch, während sie dem Säugling mit schmutzigen Fingern über den Kopf streichelt. Ich frage sie, ob ich mich dazusetzen darf. Sie nickt stumm, ohne mich anzusehen.
Was ist geschehen?“, möchte ich wissen. Ein bunter Glassplitter reflektiert das diffuse Licht der trüben Sonne, die nun hoch am Himmel steht.
Die Frau deutet auf das Baby in ihrem Arm und sagt mit tonloser Stimme:
„Sein Vater ist gestorben.“
Das Baby öffnet die Augen und beginnt leise zu weinen.
„Gott ist tot.“
Meine Augen wollen sich mit Tränen füllen und ich wende mich verschämt ab. Ich erkenne das, was ist oder eher das Wenige, was davon übrig geblieben ist, wie durch einen Schleier. Dann ich stehe ich auf und blicke über den Platz. So sieht also das Ende aus?
„Gott?“
Ich erhalte keine Antwort mehr. Die Frau ist verschwunden und das Weinen des Kindes hat sich in eine Melodie verwandelt. Die Welt löst sich in staubige Schlieren auf, wird dunkel. Die Melodie kommt aus meiner Tasche, meinem Handy, meinem Wecker.
Neben mir schnurrt schlafend die Katze. Ich bin aufgewacht und habe Aufwachmelodie des Telefons abgeschaltet. Es ist noch dunkel. Ich muss aufstehen und zur Arbeit. Mit der Kaffeetasse in der Hand betrachte ich mich im Badezimmerspiegel. Alles ist wie immer. Ich ziehe meine Jacke an, nehme meinen Schlüsselbund vom Bord, will das Handy einstecken. Eine Meldung auf dem Display zeigt: Neue Fotos. Wann habe ich fotografiert? Während ich die Treppe hinuntersteige, öffne ich die Foto-App. Ich sehe auf den Lichtbildern den Platz vor der Kathedrale, das morsche Papier, den Staub und die Überreste der Gebäude. Und ich sehe einen alten Mann, dem Tode nah. Das bin ich. Und dann die orange-graue Sonne an einem fahlen Himmel. Es sind die Bilder, die ich in meinem Traum geschossen habe.
Bin ich wach? Es fühlt sich so an, doch was ist schon sicher? Ich lasse das Auto an. Es heißt, im Traum könne man fliegen und ich werde fliegen. Oder stürzen und aufwachen. Ich beschließe in diesem Moment, nicht zur Arbeit zu fahren. Ich werde mir ein Dach suchen, denn ich will die Wahrheit wissen.
Ein Kind deutet in meine Richtung und zieht am Arm seiner Mutter. Sie entdeckt mich, schlägt die Hand vor den Mund und kramt dann ihr Telefon aus der Manteltasche. Weitere Menschen stoppen und blicken zu mir auf. Die Frau telefoniert hektisch. Ich zünde mir eine letzte Zigarette an, ehe ich springen werde. Ein Streifenwagen biegt mit Blaulicht in die Straße ein, in der Ferne das schrille Heulen weiterer Sirenen. Die Polizisten riegeln die Straße ab. Das Hupen empörter Autofahrer. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite hat sich eine neugierig gaffende Menschentraube gebildet. Ich sehe mehrere Beamte, die das Haus betreten.
Ich drücke die halb gerauchte Zigarette auf der welligen Dachpappe aus. Dann nehme ich mein Handy. Ich fotografiere über die Häuser der Stadt, den Feuerwehrwagen, der tief unter mir anhält. Ich fotografiere mich selbst und eine Taube, die auf dem Dach gelandet ist. Ein Polizist richtet sein Megaphon in meine Richtung und ruft unverständliche Worte in das Mikrofon. Ich fotografiere ihn auch, während ich ein lautes Klopfen an der blockierten Metalltüre hinter mir höre.
Es wird Zeit. Ich stecke mein Handy ein, denn ich werde es noch brauchen. Dann stehe ich auf. Die Menschen auf der Straße schreien, in meine Richtung deutend. Feuerwehrleute zerren mit vereinten Kräften ein Luftkissen aus dem Einsatzwagen. Das wird nicht nötig sein. Ich stelle mich ganz an den Rand des Daches, breite die Arme aus und lasse mich fallen.