Albena Dimitrova. Wiedersehen in Paris

dimitrova_wiedersehen_in_parisSie sind sorglos, sie sind verrückt, sie sind extrem unvorsichtig. Alba und Guéo begegnen sich in einem Sanatorium  im sozialistischen Bulgarien. Was als leise sanfte Sympathie füreinander und als kleine Rauchergemeinschaft mit klugen Gesprächen beginnt, entwickelt sich schnell zu einer Amour fou im doppelten Sinne. Alba ist siebzehn, Guéo etwa fünfundfünfzig und verheiratet. Sie, ein einfaches Mädchen mit einer Amnesie im linken Bein. Er, ein Mitglied des Politbüros Bulgariens zur freiwilligen Elektroschock-Therapie. Elektroschock als Droge, um zu vergessen.

Die 1969 in Bulgarien geborene Albena Dimitrova erzählt in dem kaum 200 Seiten langen Roman von dieser Wahnsinns-Affäre zwischen Alba und Guéo. Sie erzählt auch von Korruption und von Bespitzelung im sozialistischen Bulgarien. Packend und sprachlich radikal reduziert, beschreibt sie die letzten Tage eines untergehenden Systems. Und die wenigen Tage einer ganz großen Liebe. Heimliche Treffen unter den wachsamen Augen der Spitzel werden so zu extremen Höhepunkten der Leidenschaft. Mit einem einzigen Satz beschreibt Dimitrova eine große wildromantische Szene. Atemlos lese ich diese wenigen Worte, die doch so viel sagen, die von Leidenschaft und Hingabe sprechen: Die Winterliche Stille umfing die Sprache unserer umschlungenen Körper (S. 92) oder Wir sind nackt und verlassen, die Nacht deckt uns zu (S. 76). Auch wenn ein Freund ihm irgendwann den Rat gibt, aufzuhören, weil man ihn sonst “versenken” würde – Guéo lacht darüber und liebt lachend seine Alba. Das Leben ist kurz!

Längst hat Guéo außerdem erkannt, dass das alte System auf bestem Wege ist, unterzugehen. Er ahnt den Ausbruch der Balkankriege, er ahnt, dass die Religionen eine neue Bedeutung erlangen werden. Dass man in Kirchen, Moscheen und Synagogen schon bald den Tod des Kommunismus feiern würde. Um dem entgegenzuwirken, arbeitet er an einem Gutachten über die notwendige Reform des Kommunismus. Ein Einzelkämpfer auf verlorenem Posten. Und weil alles sowieso aussichtslos ist, liebt er seine Alba mit dieser Intensität. Er liebt sie mit den staunenden Augen eines Kindes. Er, der einst als kleiner Waisenjunge in Warna von der Strasse geholt und zum KGB-Kader geschult wurde, hat sich das Lachen dieses ahnungslosen Kindes bewahrt. Und deshalb fühlt es sich an, als würde Alba einen Gleichaltrigen lieben. Gemeinsam hören sie Karajan auf Guéos altem Kassettenrekorder. Sie diskutieren über Literatur und Politik, über Guéos Gutachten. Doch wer will im November 1988 eine radikale Reform. Wer will Glasnost und Perestroika? Erst am Ende des Romans begreife ich mit ganzer Wucht und einem kalten Gefühl der Angst die dem Roman vorangestellten Worte von Hanna Arendt: Früher gab es das nicht, dass eine Regierung ihre “Jasager” ausschalten musste.

Seine Liebe zu Alba und seine Hoffnung auf Rettung des kommunistischen Systems sind ohne Zukunft. Und doch lebt Guéo für diese Liebe und für diese Ideen genauso so exzessiv, wie er seine obligatorischen Zigaretten raucht. Ich bewundere ihn für seinen Mut, für seine Entschlossenheit und seine extreme Hingabe.

Albena Dimitrova. Wiedersehen in Paris. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2016. 189 Seiten. 19,90 €



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